Autor Holger Heiland zur Entstehung des Essaybandes Himmel, Steine, Tiere, Menschen
Die Vorgeschichte ist meist der Teil einer Geschichte, der am längsten andauert. So auch hier. Von heute aus betrachtet kann ich sagen: Zum Kino – und damit zum Lesen und in der Folge zum Schreiben – bin ich übers Genre des Horrorfilms gekommen. In seinem weitesten und fernsehtauglichen Sinn, versteht sich. Wenn ich als Kind nicht schlafen konnte, habe ich häufig versucht, von unmöglichen Plätzen wie der Treppe unseres Vorortshauses aus heimliche Blicke auf die Mattscheibe des spätabends relativ zuverlässig laufenden Fernsehers im Wohnzimmer zu erhaschen.
Das gelang mit nur wenig Verrenkung, und die Gefahr entdeckt zu werden, war über vergleichsweise längere Zeiträume hinweg relativ gering. Beziehungsweise war der Moment, in dem ich entdeckt und zurück ins Bett gebracht wurde, von vornherein als emotional stabilisierender Höhepunkt miteingeplant, ohne dass ich mir darüber hätte Rechenschaft abgegeben müssen.
Wenig später habe ich mich, wenn meine Eltern ausgegangen waren und mein kleiner Bruder schlief, allein ins dunkle Wohnzimmer geschlichen und selbst eingeschaltet. Damals, im Grundschulalter, war ich meiner Erinnerung nach immer auf der Suche nach spektakulärem Grusel. Dabei war ich dem eigenen Empfinden nach alles andere als ein mutiges Kind. Aber ich hatte Freunde, die einige Jahre älter waren und von daher schon mehr gesehen hatten. Berichte von und Gerüchte um Vampire, Werwölfe und hausgroße Monsterspinnen gab es im Überfluss.
Eine Leidenschaft für das Verbotene und Skurrile
Für alle, die ähnliche Plätze fanden und vergleichbare Gewohnheiten entwickelten, hielt das nächtliche TV-Programm der späten 70er und frühen 80er Jahre des letzten Jahrhunderts als Leckerbissen Dracula-Streifen mit Christopher Lee (allen voran BLUT FÜR DRACULA und DRACULA JAGD MINIMÄDCHEN) und Klassiker des Genres wie Murnaus NOSFERATU oder FRANKENSTEIN mit Boris Karloff als Monster bereit.
Illegitim Filme zu schauen war aber überhaupt ein großes Thema; besondere Anziehungskraft entwickelte in diesem Zusammenhang das Autokino auf einem Feld in der näheren Umgebung. Immer wieder planten wir als Kinder nächtliche Ausflüge in Richtung dieses Sehnsuchtsorts und führten sie manchmal sogar durch. Von den omnipräsenten Plakaten und Flyern kannten wir die Titel der Kracher, die hier regelmäßig liefen: ALIEN – DAS UNHEIMLICHE WESEN AUS EINER FREMDEN WELT, THE FOG – NEBEL DES GRAUENS, DAS DING AUS EINER ANDEREN WELT, dann aber auch Weltkriegs-Trash wie STEINER – DAS EISERNE KREUZ und DIE WILDGÄNSE KOMMEN oder gemäßigt Pornographisches.
Ein überraschender Nebeneffekt dieser Anziehung war, dass sie zumindest bei mir nicht zuletzt dazu führte, dass ich las. Denn nach kindlichen Karl-May- und Jules-Vernes-Phasen hieß meine wieder und wieder durchgearbeitete bildergespickte Bibel, einige Zeit bevor ich mich über die Bibliothek meiner Eltern hermachte, „Klassiker des Horrorfilms“.
Darin gab es, wenn ich mich richtig erinnere, ein Kapitel, das sich unter dem Titel „Ein letzter Blick in die Runde“ mit den damals neuen, äußerst gewalttätigen Subgenres der Zombie- und Slasherfilme, also etwa George A. Romeros ZOMBIE oder Tobe Hoopers BLUTGERICHT IN TEXAS (ein deutscher Verleihtitel, der sich nie gegen den ikonischen Originaltitel THE TEXAS CHAIN SAW MASSACRE durchgesetzt hat), beschäftigte. Ihnen wurde durchaus politisch-künstlerische Relevanz bescheinigt; diese ausdeuten sollten jedoch kommenden Kritikergenerationen mit weniger empfindlichen Mägen.
Das klang nach einem Auftrag. Allerdings musste er noch für einige Zeit tief verschüttet in mir schlummern. Und obwohl ich damals das texanische Kettensägenmassaker nicht gesehen habe (immerhin stand der Film in Deutschland bis 2011 auf dem Index für jugendgefährdende Medien, was den Zugang erschwerte), hat es aus der Ferne immer eine eigenartige Faszination auf mich ausgeübt. Vielleicht ist es daher kein Wunder, dass eigene Ausflüge in die Praxis des Filmemachens (ein schwieriges Geschäft, wenn man davon leben will) thematisch ebenfalls um Schuld, Gewalt und Tod kreisten; und auch meine erste beauftragte Filmkritik viele Jahre später beschäftigte sich mit einem durchaus skurrilen Genremix: THE UNTAMED von Amat Escalant.
Jenseits des Horrors
Das Genre des Horrorkinos zeichnet sich dadurch aus, dass es ein recht direktes Mittel ist, um von den Schrecken der Welt zu erzählen. Es konfrontiert das Publikum durch Ekel, Gemeinheit und Unbegreifliches mit dem Bösen, Verdrängten oder schlichtweg Anderen. Das soll und kann kathartische Effekte haben. Und es sorgt im Idealfall dafür, den Blick für reale Gewaltverhältnisse zu schärfen. Darüber hinaus bleibt sein Beitrag jedoch höchstwahrscheinlich begrenzt, wenn es darum geht, Strategien für all das zu finden, was uns in unserer Umwelt real als Horror erscheint.
In den Kulturwissenschaften und angrenzenden Disziplinen wird deshalb seit einiger Zeit immer dringender danach gefragt, wie die doch brenzlige Lage, in der wir uns als Menschheit heute auf diesem Planeten wiederfinden, nicht zuletzt mit den Geschichten zusammenhängt, die wir einander über uns selbst und andere erzählen und schon immer erzählt haben.
Eine These lautet, dass es bestimmte wiederkehrende Muster gibt, nach denen gelingendes Erzählen funktionieren soll: Stichwort „Heldenreise“. Ich mache es kurz: Der Kern erfolgreicher Narrative liegt demnach – ob sie nun von Sternenkriegen oder inneren Wandlungen berichten – vor allem darin, dass sie von Heroen handeln, die stellvertretend für die große Mehrheit der Normalsterblichen in Opposition zur Welt treten, um sich und das große Ganze zu optimieren. Wenn das so ist, lassen sich Heldengeschichten vor allem deshalb als problematisch betrachten, weil ihre Protagonist:innen sich in ihrer Sonderstellung unweigerlich aus dem Zusammenhang entfernen, dem sie doch angehören.
Erzähler von prähistorischen Stammespriestern bis zu heutigen Filmautoren und Spieleentwicklern nehmen fast zwangsläufig Grenzziehungen vor und hierarchisieren; sie schaffen ihre Stellvertreter als Ausnahmen und Subjekte, die andere und die Welt systematisch zu Objekten ihres Denkens und Agierens machen. Diese Geste enthält komprimiert die grundlegende Dualität – und damit: die Crux – des abendländischen Denkens mit ihrem „hier ich, da draußen die Welt“.
Aus dieser Bestandsaufnahme ergibt sich leicht ersichtlich die Forderung, andere Geschichten zu erzählen, um gegen diese Art jahrtausendealter neurolinguistischer Programmierung anzugehen.
Das klingt nach Sisyphusarbeit. Aber erst recht nach der Aussicht auf neue, andere und vielleicht durchaus spannende neue Geschichten und Arten, von der Welt zu erzählen.
In meiner Beschäftigung mit dem Autoren- und Festivalfilm der letzten Jahre ist mir aufgefallen, dass es quer durch die unterschiedlichen Sujets bereits viele solcher neuen Ansätze zu entdecken gibt. Manche davon scheinen direkt auf in der Theorie erhobenen Forderungen nach einer Hinwendung zu nicht- oder mehr-als-menschlichen Anderen einzugehen, indem sie Landschaften, sie bewohnende Tiere, Wolkenformationen, Architekturen, Bewegungen, Lichtverhältnisse oder zunächst unscheinbare Details verstärkt in den Blick nehmen. Andere ziehen sich ganz in künstliche Parallelwelten zurück oder arbeiten mit Elementen aus anderen Bereichen wie Theorie, Pop, Malerei oder Theater.
Mit Himmel. Steine. Tiere. Menschen habe ich mich anhand von 28 Filmen aus den letzten Jahren auf die Suche nach solchen neuen Erzählweisen und Blicken auf die Welt gemacht. Gefunden habe ich gleichermaßen Tendenzen zu Verlangsamung wie zu neuer Drastik, Abgründe und weitere Rätsel, wo man Lösungen erwartet hätte. In jedem Fall: ein lebendiges Kino mit erhellenden Ansichten des Realen, dessen Realität, was soviel heißt wie: Dinghaftig- und Wirklichkeit, wir ernstnehmen und in die wir uns einstimmen sollten.
Holger Heiland
Mehr von Holger Heiland können Sie im Buch Himmel. Steine. Tiere. Menschen. lesen.
Die Analyse des Films PARASITE (2019) gibt es hier als Leseprobe.
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