Ein Auszug aus einem Aufsatz von Tina Kaiser, der im aktuellen Schweizer Filmjahrbuch Cinema: #69 Wild erschienen ist.

Wie begegnet der Film in ästhetischer Hinsicht Naturräumen und damit diversen Umweltverständnissen, die die Mitwelt ebenso meinen wie Natur und Wildnis im Sinne von gerahmter ursprünglicher Landschaft? Wie lässt sich dabei die alte Dichotomie von Natur und Kultur ad acta legen und Natur nicht mehr als das ‹Andere›, das ‹Fremde dort draußen› beschreiben? Was könnte gar eine ökologische Ästhetik im Film sein, die auch unsere haptischen und empathischen Sinne triggert und uns so vielleicht selbst zu (Umweltschutz-)Handlungen motiviert?

Filmstill ‹Above and Below the Ice
(Philipp Grieß/UFA Documentary, DE 2022)

Indem ich mich auf die Nutzung von Naturlandschaft im Sinne ihrer Bedeutungsgebung und Wahrnehmung an der Schnittstelle von filmischer Erzählung und audiovisueller Bildarbeit konzentriere, versuche ich in diesem Text, mögliche Wege aufzuzeigen , die unser Verständnis von Umwelt anders, bewusst(er) verhandeln/ sensibilisieren und dabei die anthropozentrische Perspektive neu befragen helfen: hin zu einem Empfinden des Eingebettetseins, des Vernetztseins in und mittels kadrierter Natur.

«We might reframe this as an aesthetic of cathexis – the deep mental and emotional investment in observing, listening to and feeling the landscapes of which we are temporary custodians. As James Benning remarked, „I do think people want to know more about things after they learn how to really hear and see“ (cited in Balsom 2021:13). (…) we must ‚let ecology and feeling work together‘ (2021:n.pag.). Emotion is what will enable us to act»¹

Scott MacDonalds Sicht auf die Arbeit des Ecocinemas im Sinne eines ‹retraining of perception›, Gernot Böhmes Ökologische Ästhetik, Adrian Ivakhivs Kinoverständnis als eine Art von Maschine, die u.a. dazu da ist, die Welt zu erforschen und dadurch aber eben auch zu bewahren² sowie Sean Cubitts, Selma Monanis und Stephen Rusts Ecocinema-Perspektive, die ein besseres Verständnis unseres Eingebettetseins in natürliche Zusammenhänge ermöglichen soll³, werden dabei für einen ökosystematischen Ansatz bei der Filmanalyse in den Fokus gerückt: Wie wird uns die Natur außerhalb und innerhalb der romantischen Tradition erzählt und gezeigt? Wie kann Film, mit Isabelle Stengers In catastrophic times gedacht, gewisse Dichotomien überwinden, die selbst schwierige Verständnisse von Mensch und Welt transportieren.

Mein Text versucht einerseits diese Fragen anhand zweier zeitgenössischer Spiel- und Dokumentarfilmproduktionen zu diskutieren, Unruh (CH 2022) von Cyril Schäublin und Expedition Arktis/Above and Below the Ice (DE 2020/22) von Philipp Grieß , und diese dabei zugleich zu zwei Vorläufern, Akira Kurosawas Dersu Uzala (UdSSR 1974) und Werner Herzogs Encounters at the End of the World (US 2008), in Bezug zu setzen.

Der Film als ästhetisches Erfahrungsmittel von Welt ist dabei eigentlich immer wieder aufs Neue (auch im Zuge der jeweiligen technischen Entwicklungen innerhalb der Visualisierungsmöglichkeiten des Bewegtbildes) in der Auseinandersetzung mit wilden Landschaften prädestiniert für eine sensibilisierende Verhandlung von Naturkultur, die die Wildnis ja zumindest gesteigert ab dem Moment ist, in dem sie gefilmt wird.

Inmitten der aktuellen breiten Möglichkeiten des Films stellt sich dabei nur die Frage, wie er diese Möglichkeiten nutzt und nutzen kann. Zumal: Sind Fragen nach neuen Perzeptionsweisen im Film derzeit eigentlich übertrieben oder gar völlig angebracht? Fragen von Aktualität und Zeitlichkeit der Inhalte spielen hier ebenso hinein wie ästhetische Fragen, die in Politik und Handlung führen können, denn die Sensibilisierung der Rezeption sollte im besten Sinne auch etwas bewirken. Der inhaltliche ‹impact› sowie der produktionstechnische Footprint der Filme ist dabei mindestens gleich wichtig. Ein ökosensibles Kino müsste mit beidem arbeiten, dann könnte Film gar eine Art Korrektiv anthropozentrischer Wahrnehmung werden, in dem alternative Ästhetiken und situierte filmischen Ökologien ineinandergreifen.

«Landschaftsbilder im Film machen, auch insbesondere gerade dann, wenn sie das zeigen, was man als monumentale Landschaft bezeichnen kann, aufmerksam für ihre Rahmung und ihre Ausschnitthaftigkeit, die getroffene Wahl von Standpunkten (…) wie die jeweils (im Landschaftsraum, im Schneideraum, im Kinoraum) von den Blicken getroffene Auswahl von Bildern. Sie zeigen Beziehungen auf, die der auf Handlungsabläufe konzentrierte Blick übersehen muß, Beziehungen eben auch, die das abwesende Außerhalb des Films im Film selbst kenntlich machen. Das im Film sich bestimmende Verhältnis von Vordergrund und Hintergrund und für den Film bestimmend behauptete hierarchische Verhältnis von Hauptsache (Handlung oder Aussage) und Nebensache (mediatisierte Verhältnisse) als für die Bilder und ihre Rezeption funktional vorzuführen, kann allem Anschein nach auf ausdrückliche Weise angesichts von Landschaften im Film besonders ausdrücklich gelingen. Sofern man sie denn sieht.»

Meine in Aufnahmen der Durchquerung (2008/2015)⁵ untersuchten Bildkategorien der Durch- und Aufsicht zeigen sich in diesen Ansichten von Naturräumen immer wieder in regem Austausch: Kippbilder entstehen und bieten das Gegenteil einer orientierungsgebenden, stabilen Ansicht. Der Film wird zu medialen Verfahren neuer Verhandlungen des Miteinanders von Natur und Mensch. Dies ebenso, wenn nicht im Kinofilm, dann gerade auch dort, wo der Mensch hinter der Kamera eigentlich nicht oder eher weniger gut einsetzbar ist – im TV-High/End-Dokumentarfilm von realen Expeditionen. Der Film erweitert dabei konkret anhand von Drohnenaufnahmen über und unter Meereis sein ‹wildes› Bildrepertoire von kaum bis gar nicht zugänglichen Naturräumen.

Eine Erfahrung folglich, die die Filmarbeit auf ihren Ausgangspunkt in der visuellen Bewegungsuntersuchung zurückführt. Als einen Ausgang, der in den Bildern die Rezeption und ihre Körpergebundenheit, auch in den vermeintlich ‹unbemannten› Aufnahmen nachvollziehbarer macht. Und die Drohnenbilder nicht zuletzt auch als eine Variante ästhetischer Immersion in und mittels des Wildnismotivs erkennen lassen. Diese Aufnahmen sind Formen radikaler audiovisueller Wahrnehmungsnischen innerhalb der jeweiligen Filme, – sie operieren in den Extremen der jeweiligen elementaren Gegebenheiten, hier von Luft, Kälte und Wasser, und können auf etwas aufmerksam machen, was diese Bilder, evtl. mit einer ganz anderen Erzählintention, mittransportieren: Als Fernansichten per Übertragung und mittels Navigation zum Beispiel befestigt an einem ROV (ferngesteuertes, kabelgeführtes Unterwasserfahrzeug, eng. remotely operated towed vehicles) entstanden, vermitteln sie eine Dezentrierung, eine Delokalisation, von menschlicher Wahrnehmung.

Filmstill ‹Expedition Arktis: Ein Jahr. Ein Schiff. Im Eis
(Philipp Grieß/UFA Documentary, 2020)

Im Kurzfilm Above and below the Ice (2022) von Philipp Grieß, der hierin mit Material der MOSAiC-Expedition arbeitet, das er mit mehreren Begleitteams für den ARD-Dokumentarfilm Expedition Arktis. Ein Jahr. Ein Schiff. Im Eis (2020) sowie für die internationale Version Arctic Drift (2021) gedreht hat, zeigt sich dies erneut. Der Hintergrund dieser internationalen Polarexpedition, die vom Bremerhavener Alfred-Wegener-Institut geleitet und mittels des Eisbrecher-Forschungsschiffs Polarstern durchgeführt wurde, ist dennoch ein anderer – einer, der sich zuerst einmal ganz auf den wissenschaftlichen Arbeitsaspekt vor Ort konzentrieren sollte: Der Plan war ein Jahr lang eingeschlossen im Meereis mit der Transpolardrift, angedockt an eine Scholle, die Arktis zu erforschen. MOSAiC ist die erste Expedition, die diese Drift mit der langen Durchquerung der Polarnacht und der Länge eines Meereisjahreszyklus vereinte.

Als Formen der audiovisuellen Einfühlung in kaum erreichbare Naturräume kann hier der Film ein Reservoir befragender und zugleich konzentrierter Wahrnehmungangebote liefern, die ein anderes Erfassen von weit entfernten Lebenswelten ermöglichen. Und dies eben auch als Erfahrung des Eintauchens in natürliche Landschaftsbiome, dergestalt als eine Form der Empathieermöglichung – hier für Eisformationen, oder aber auch für Dschungellaub, für Wüstensand, für Steppengras, für Blätter im Wind – Sie wissen, wovon ich spreche: Der Faden beginnt mit Siegfried Kracauers Errettung der äußeren Wirklichkeit und läuft über André Bazins lange Einstellungen – mit Laura U. Marks haptischer Visualität weitergedacht, kann das Sehen hier selbst taktil oder stellenweise zumindest taktiler werden. In diesem Sinne arbeiten die Flug-, Tauch- und Gleitaufnahmen von Drohnen in und über der Wildnis gegen die Übersichtsfunktion der Karte bzw. einfacher Distanzdefinitionen: die Aussage ‹this is there› funktioniert hier nicht mehr. Orientierung wird schwierig, unsicher, eben: instabil, ungewiss, jederzeit kippbar: Was ist oben, was unten, wo hinten, wo vorn, ist es gar eine Spiegelung? Ist es nah oder fern, evtl. gar zu nah? Geht die Drohne gleich kaputt, stößt sie wo an? Gefriert sie gar und stürzt ab? Man wird sehend und einfühlend in den fernen Naturraum zugleich – das Abwesende wird neu anwesend und dergestalt anders rezipierbar gemacht.

Filmstill ‹Above and Below the Ice
(Philipp Grieß/UFA Documentary, DE 2022)

Den Bildern kann so quasi ihre Fülle zurückgegeben werden: Hin zu einer ungewohnten, offenen Betrachtung verschiedenster Landschaftsgeographien: Auf- und Untersichten treten ein, die teils den fernen Raum nah, den nahen Raum fern wirken lassen können, Off und On vor der Kamera ebenso bewusster machen.

Tina Kaiser

Der neue Film Expedition Arktis 2: Tauchfahrt am Nordpol (2023, R: Philipp Grieß, Manuel Ernst) hat gerade auf dem Int. NaturVision-Filmfestival Ludwigsburg den Deutschen Umwelt- und Nachhaltigkeitsfilmpreis gewonnen und wird Anfang November in der Filmauswahl des Int. Schweizer Filme für die Erde-Festivals in Bern, Luzern, Winterthur und Zürich zu sehen sein.

¹ Elwes, Catherine, Landscape and the Moving Image, Bristol, 2022, S. 230.
² Adrian Ivakhiv, Ecologies of the Moving Image: Cinema, Affect, Nature. Laurier University Press, Waterloo, 2013.
³ Sean Cubitt, Selma Monani, Stephen Rust: Ecocinema Theory and Practice. Routledge, Abington, 2012.
⁴ Nils Plath, «Landschaft erblicken», in Günter Giesenfeld, Thomas Koebner (Hg.), Augen-Blick. Marburger und Mainzer Hefte zur Medienwissenschaft, Heft 37: Blicke auf Landschaften, Marburg, 2005, S. 5ff.
⁵ Tina Kaiser, Aufnahmen der Durchquerung – Das Transitorische im Film, Bielefeld 2008 (e-book Berlin 2015).

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