Packendes Drama um Demenz und Identitätsverlust, das konsequent aus Sicht eines 80-jährigen Mannes erzählt ist, dessen Verwirrung sich unmittelbar überträgt
Wo denn seine Armbanduhr bloß wieder sei? Er sei sich sicher, sie auf dem Nachttisch abgelegt zu haben. Aber wahrscheinlich habe die Pflegekraft, die täglich kommt, sie gestohlen. Man müsse sie gleich entlassen.
Diese Szene wird sich mehrmals wiederholen. Sie ist ein emblematisches Beispiel dafür, wie alltägliche Dinge für ältere Menschen eine immer größere Macht bekommen. Sie sind mit Bedeutung aufgeladen; wenn sie verschwinden, gerät die Welt aus den Fugen.
Ulrike Ottinger wird heute 80. Zu diesem Anlass hat Bernd Stiegler einen persönlichen Geburtstagsgruß an die ikonische Künstlerin und Filmemacherin verfasst
Das Titelbild des ausführlichen Gesprächs mit Ulrike Ottinger, das jüngst als Einzelheft der Zeitschrift AUGENBLICK erschienen ist, stammt aus einem Trailer für ihren Film Freak Orlando (1981). Es ist Teil einer Serie von Aufnahmen, die deutlicher als die für den Umschlag ausgewählte machen, dass Ulrike Ottinger hier ein besonderes Gewand gewählte hatte: Sie hatte sich als Müllsammlerin verkleidet. Über und über bedeckt mit den Resten von Plastiktüten, auf denen – immerhin! – noch die Werbung für Bücher zu entziffern war, schritt sie mit einem spitzen Stock bewaffnet durch eine Industriebrache, um dort Sachen aufzulesen, wie es Leute tun, die in Parks das Laub aufsammeln. Im Trailer ertönte die strenge Stimme des Aufnahmeleiters gottgleich aus dem Off und fragte, was sie dort treibe. Ihre Antwort war ebenso einfach wie wunderbar: „Ich sammle Alltag für meine Filme!“
Die Filmemacherin Ulrike Ottinger wird am 6. Juni 2022 80. Zu diesem Anlass bringen wir heute schon einmal einen Auszug über den Film Madame X (1977) aus dem Augenblick 84: Ulrike Ottinger im Gespräch
Das Gespräch mit Ulrike Ottinger (UO) haben am 23. und 24. Juni 2021 Beate Ochsner (BO) und Bernd Stiegler (BS) geführt.
BO: Vielleicht bleiben wir bei Madame X. Der Film wurde ja, das haben Sie erwähnt, zum Teil sehr kritisch betrachtet, vor allem im Kontext eines feministischen Filmverständnisses. Theodor Geus titelt seine Rezension des Films «Struwwelpeter für Emanzen», hat den Film aber auch mit dem Lehrstück à la Brecht verglichen, was ihm eine politische Dimension unterstellt. Gertrud Koch bestätigt dies, wenn sie von einer «Emanzipationsparabel» spricht. Das kritische feministische Denken hat sich ja weiterentwickelt und womöglich würde man heutzutage nicht mehr von feststehenden Geschlechtern sprechen. Wie beurteilen Sie das aus heutiger Sicht, wo die Laudatio zum Pink Apple Award, den Sie 2020 erhalten haben, Sie als Regisseurin feierte, die Queerness zelebrierte, noch bevor es ein Wort dafür gab? Wie beschreiben Sie Ihre Rolle als Regisseurin in dieser Perspektive? War es Ihnen jemals ein Anliegen, zu einer solchen Vorreiterfigur zu werden?
Ulrike Ottinger als Orlando und Tabea Blumenschein als Madame X in MADAME X (1977)Weiterlesen
Der Vortrag fand zur Finissage der Ausstellung am 22. Mai 2022 statt. Einen Auszug des Vortrags können Sie hier lesen, den kompletten Vortrag gibt es auch als Video auf YouTube.
Mein Name ist Denis Newiak, ich bin Film- und Fernsehwissenschaftler aus Potsdam und forsche zu Katastrophenszenarien in Kino und Fernsehserien. Dabei interessiert mich, ganz allgemein formuliert, insbesondere die Frage, was uns diese desaströsen filmischen Kunstwerke über den Zustand unserer Gegenwartsgesellschaft verraten können: Warum entstehen heute so viele von diesen wütenden und anarchischen, oft pessimistischen und verstörenden Werken? Woher kommt die große Lust an der filmischen Katastrophe – und was können wir durch sie über die krisengeplagte soziale Realität lernen?
Denis Newiak im DFF – Deutsches Filminstitut und Filmmuseum FrankfurtWeiterlesen
1982 bringt Poltergeist den Spukhausfilm in die amerikanische Vorstadt
In seinem Text Das Unheimliche beschreibt Siegmund Freud die Grundlage jenes Grusels, der dem Spukhausfilm zugrunde liegt: Unheimliches entsteht, wenn die beiden Bedeutungen vom «heimlich», also das Heimelige und das Verborgene, ineinander fallen. Immer wieder wird das Eigenheim ungemütlich, weil sich die nicht nur metaphorischen Geister der Vergangenheit bemerkbar machen. Dieses Genre hat eine lange Tradition in Literatur und Film, von Henry James‘ Novelle Turn of the Screw (1898) über Shirley Jacksons Roman Spuk in Hill House (1962) bis zu dessen erster Verfilmung Bis das Blut gefriert (1963). Was viele Vertreter des Spukhausfilms vor Poltergeist auszeichnet, ist ihre Gothic-Anmutung: Fast immer sind es alte Landhäuser, verlassene Villen oder kleine Schlösser, Orte mit Tradition und abseits der modernen Stadt, an denen das geisterhafte Böse zuschlägt. Amityville Horror (1979) brachte das Grauen um üble Geister, die Menschen zum Mord an der eigenen Familie treiben, zwar schon in das Städtchen Amityville im Bundesstaat New York, wirkt aber so traditionell bis altbacken, dass er sich nicht nur drei Jahre, sondern merklich älter als Poltergeist anfühlt.
Ein Gastbeitrag des 35 mm Magazins zur Filmpionierin Lotte Reiniger
Noch immer hält sich die Mär, die Filmgeschichte bis 1965 sei immer männlich gewesen. Dabei war gerade die Frühzeit des Kinos noch sehr weiblich. Mit Regisseurinnen wie Alice Guy-Blaché oder Dorothy Arzner. Heute sind deren Leistungen fast vergessen (weshalb wir in unserer Ausgabe #22 an diese Filmpionierinnen erinnert haben). Teilweise liegt es auch daran, dass manche Männer die Errungenschaften der Damen einfach für sich reklamierten, oder ihnen von der Filmhistorie diese zugeschrieben wurden. Ein prominenter Fall ist Lotte Reiniger. Obwohl sie es war, die mit DIE ABENTEUER DES PRINZEN ACHMED (1926) den ersten abendfüllenden Animationsfilm erschuf, denken viele, diese Pioniertat wäre von Walt Disney mit SCHNEEWITTCHEN UND DIE SIEBEN ZWERGE (Snow White and the Seven Dwarfs – 1937) begangen worden. Dabei entstand Disneys Film erst elf Jahre später.
DIE ABENTEUER DES PRINZEN ACHMED (Reiniger 1926)Weiterlesen
Wolfgang Thiel zur Entstehungsgeschichte des Bandes Walzerfilme und Filmwalzer
Bei meinen musikalischen Film-Recherchen, die sich mittlerweile über fast fünf Jahrzehnte erstrecken, fiel mir im Laufe der Zeit zunehmend auf, dass in erstaunlich vielen Spielfilmen der gesungene, getanzte, geschunkelte, von einem einsamen Akkordeon oder großen Orchester vorgetragene Walzer eine wichtige dramaturgische Rolle spielt. Erstaunlich ist zudem, dass es sich hierbei sowohl um alte und neue, heitere und ernste, als auch spannende, dramatische und sogar düster-tragische Filmproduktionen rund um den Globus handelt. Dass Walzerklänge in Filmen wie Zwei Herzen im Dreivierteltakt oder An der schönen blauen Donau zu finden sind, liegt auf der Hand. Auch die zahlreichen Biopics über die ›Walzer-Sträuße‹, die jahrzehntelang beliebten Operetten-Verfilmungen sowie diverse Reise-, Liebes- und Lustspielfilme mit Stadtansichten von Wien und Paris kommen ohne einen Walzer als akustisches Lokalkolorit nicht aus.
Wenn aber Johann Strauß´ weltweit bekannter ›Donau-Walzer‹ beim Flug zu einer Raumstation wie in Stanley Kubricks 2001 – Odyssee im Weltraum und in der Maiwiesen-Sequenz aus Volker Schlöndorffs Literaturverfilmung Die Blechtrommel an herausgehobener Stelle erklingt oder der englische Komponist R.R. Bennett im Krimi Mord im Orientexpress die fahrende Lokomotive mit einem brillanten Orchesterwalzer ›zum Tanzen‹ bringt, wird die Sache interessant.
Seth Rogens Eltern lernen sich in einem israelischen Kibbutz kennen, er wird 1982 in Kanada geboren. Mit 16 Jahren fällt er als Stand Up-Comedian bei einem offenen Casting Judd Apatow auf, der ihn für seine Jugendserie Freaks and Geeks entdeckt. Rogen wächst hier vor laufender Kamera in die Schauspielerei, lernt James Franco und Jason Segel kennen. Danach bleiben die Rollenangebote aus. Rogen will sich aufs Schreiben konzentrieren, wird 2004 Teil des Autorenteams der finalen Staffel von Sasha Baron Cohens Da Ali G Show, wo er seine heutige Frau Lauren Miller kennenlernt.
Seth Rogen und Elizabeth Banks in ‹Zack and Miri Make a Porno› (USA 2009)Weiterlesen
Die 39. Ausgabe des IFFF zeigte erneut ein vielfältiges Programm
Vom 29. März bis zum 3. April 2022 fand das diesjährige IFFF (Internationale Frauen Film Fest) in Köln statt. Rund 100 Filme aus 35 Ländern wurden in verschiedenen Kinos in Köln gezeigt, 60 Filmemacher*innen waren vor Ort und präsentierten ihre Filme vor Publikum. Das Filmfestival mündete in einer feierlichen Preisverleihung. Eine Auswahl der Filme ist noch bis zum 10. April 2022 hier im Stream verfügbar.
Tsitsi Dangarembga und Ula Stöckl verliehen den Debüt-Spielfilmpreis im Kölner Filmforum Weiterlesen
Claudia Siefen-Leitich analysiert in ihrem neuesten Buch Alice in Illness das Bild der kranken Frau im Film. Wie es dazu kam, erzählt sie hier
Ich habe ein Notizbuch. Die letzten fünf Jahre fanden dort nach jedem meiner Kinobesuche Bewegungen, Szenen, Schnitte, Kameraschwenks, Schauspielkniffe und auch Geräusche ihren Eintrag. In diesem Buch finden sich im Laufe der Zeiten Unterordnungen, unter anderem etwa »das Anheben einer Schürze«. Daraus konnte ich 2012 meinen Experimentalfilm Hab’ so lang auf dich gewartet machen. Das Anheben der Schürze versprach Spannung, Irritation und eine Vielfalt an Gründen, warum und vor allem wie eine Schürze von der jeweiligen Schauspielerin angehoben wurde. Was geschah davor? Was geschah danach?
Die Schauspielkunst, wenn es um die Darstellung von Krankheit ging, rückte für mich die Stärke der jeweiligen Figur im Film in den Mittelpunkt. Ein Film ist ein Film, am Set geht es oft rasant zu, was genau wird gedreht, um die Figur im Zustand des Unwohlseins zu zeigen? Meine Jahre im Schneideraum für Dokumentarfilme, Werbefilme und auch TV-Serien wollten den Bildschnitt nicht Außer-Acht lassen. Gesammelt habe ich weiterhin solche Szenen.
Bette Davis in DARK VICTORY (1939) von Edmund GouldingWeiterlesen
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