Die Filmemacherin Ulrike Ottinger wird am 6. Juni 2022 80. Zu diesem Anlass bringen wir heute schon einmal einen Auszug über den Film Madame X (1977) aus dem Augenblick 84: Ulrike Ottinger im Gespräch
Das Gespräch mit Ulrike Ottinger (UO) haben am 23. und 24. Juni 2021 Beate Ochsner (BO) und Bernd Stiegler (BS) geführt.
BO: Vielleicht bleiben wir bei Madame X. Der Film wurde ja, das haben Sie erwähnt, zum Teil sehr kritisch betrachtet, vor allem im Kontext eines feministischen Filmverständnisses. Theodor Geus titelt seine Rezension des Films «Struwwelpeter für Emanzen», hat den Film aber auch mit dem Lehrstück à la Brecht verglichen, was ihm eine politische Dimension unterstellt. Gertrud Koch bestätigt dies, wenn sie von einer «Emanzipationsparabel» spricht. Das kritische feministische Denken hat sich ja weiterentwickelt und womöglich würde man heutzutage nicht mehr von feststehenden Geschlechtern sprechen. Wie beurteilen Sie das aus heutiger Sicht, wo die Laudatio zum Pink Apple Award, den Sie 2020 erhalten haben, Sie als Regisseurin feierte, die Queerness zelebrierte, noch bevor es ein Wort dafür gab? Wie beschreiben Sie Ihre Rolle als Regisseurin in dieser Perspektive? War es Ihnen jemals ein Anliegen, zu einer solchen
Vorreiterfigur zu werden?
UO: Also Anliegen wäre das ganz falsche Wort. Ich sehe das völlig spielerisch. Ich finde, in der Fantasie kann man absolut alles spielen. Es ist eigentlich eher so, dass mich heute diese genauen Einteilungen fürchterlich stören. Also man sprengt die Grenzen, um sie sofort wieder zu errichten und für alles eine fein säuberliche Schublade zu haben. Und das finde ich völlig apolitisch, ja unkünstlerisch. Wo bleibt da unsere Fantasie, wenn wir nicht mit allen möglichen Dingen auf eine interessante Weise spielen können? Und gerade durch das Spiel entdeckt man ja auch andere Möglichkeiten. Das ist auch etwas, was ich so oft auf meinen Reisen beobachtet habe: Menschen, die unter einem besonderen Druck stehen oder besondere Schwierigkeiten haben, entwickeln eine unglaubliche Kreativität und Fantasie, diese zu überwinden. Ich denke, der gesamten Diskussion würde ein bisschen Humor sehr guttun. Ich hatte diesen Humor damals schon, doch wurde er mir von bestimmten Menschen übelgenommen.
Zwei Jahre nachdem der Film veröffentlicht wurde, kam ich in die USA. Ich wusste nicht, was er dort für eine Verbreitung hat. Ich habe damals mit Unterstützung
om Goethe-Institut eine große Reise mit Madame X, Bildnis einer Trinkerin (D 1979) und meinen beiden ersten Filmen Laokoon & Söhne (D 1972/1973) und Betörung der blauen Matrosen (D 1975) unternommen. In Amerika angekommen war ich fassungslos: Von Madame X, der zu einer Art Galionsfigur der Frauenbewegung in den USA geworden war, gab es an jeder Uni eine Klatschkopie. Ich wusste das gar nicht. Ich kam da hin und wurde gefeiert in einer Weise, wie ich mir das vorher gar nicht vorstellen konnte. Aber auch in Deutschland gab es ja nicht nur Kritik: Am Anfang, als der Film startete, lief er in zahlreichen Kinos und das sowohl in großen Städten – in Berlin z. B. im Yorck Kino – wie auch in kleinen. Ich erinnere mich, dass die ersten zwei Monate nach Filmstart und erneut als der Film dann erstmals
ins Fernsehen kam (ich wohnte damals in der Erdmannstraße) junge Leute aus allen möglichen Dörfern und Städtchen nach Berlin gekommen waren, um zu warten, bis wir auf die Straße kamen. Sie haben einfach ihre Dörfer verlassen und haben gefeiert. Sie haben gesagt: Das ist fantastisch, das ist wie ein Befreiungsakt. Ich habe mir das nicht vorstellen können, weil ich den Film mit viel Leichtigkeit gedreht habe, ohne zu ahnen, welche Auswirkungen er haben würde.
Bei der Leichtigkeit, mit der ich das machte, hatte ich mir überhaupt nicht vorstellen können, welche positiven wie auch negativen Auswirkungen der Film hervorbringt. Damals hat das von Manfred Salzgeber betriebene Bali Kino in Berlin hervorragende Nachtprogramme gemacht. Sie begannen um Mitternacht, wenn die letzte S-Bahn kam (das Kino war direkt an einer S-Bahn-Haltestelle), und endete am frühen Morgen um 4:00 Uhr oder 4:30 Uhr, wenn die erste S-Bahn fuhr. Dort wurden u. a. erstmals in Deutschland Undergroundfilme von Kenneth Anger – z. B. Fireworks (USA 1947) – oder Jack Smith gezeigt. Ich erinnere mich, dass mein Film aber auch ganz normal im Abendprogramm dort lief, als eine Gruppe von Frauen kam, um mich zu verprügeln. Dann mussten der Vorführer und die Jungs von der Kasse kommen, um mich zu beschützen. Also es ging wirklich hoch her. Das war eine Zeit, wo das wirklich noch mit Fäusten ausgetragen wurde …
BS: … ein kontroverser Film.
UO: (lacht) … was man sich heute nicht mehr vorstellen kann. Die Rezeption von Filmen ist für mich generell unglaublich spannend, weil es ja letztlich immer derselbe Film ist. Beim Theater gibt es gute und schlechte Abende oder eine neue Besetzung. Der Film aber bleibt, wie er ist, und wird doch immer anders rezipiert. Gerade wenn man älter wird, wird das immer faszinierender, weil man in verschiedenen Ländern und Kulturen nicht weiß, was wie wahrgenommen oder auch nicht wahrgenommen wird, was schockierend und was befreiend wirkt. Natürlich gibt es politische Aktualitäten, die die Rezeption beeinflussen. Dann sagt man: Ja, so ist es! Ich finde das grundsätzlich etwas Aufregendes. In den USA gab es dann sogar Romane, die die Figur der Madame X oder andere Elemente aus dem Film erwähnten. Der Film war also tatsächlich in der Diskussion. Das kann man so sagen.
BS: Also auf der einen Seite – Beate hat das in ihrer Frage ja schon formuliert –, wurde der Film mit einem Lehrstück von Brecht verglichen und demzufolge mit einer eindeutigen politischen Botschaft versehen. So wusste man, dass man am Ende, d. h. nachdem das Stück inszeniert und aufgeführt wurde, weiß, wie man sich später politisch zu verhalten hat. Gertrud Koch hingegen hat andererseits von einer Emanzipationsparabel gesprochen und die ist ja durchaus offen. Ich denke, dass diese Offenheit für Madame X auch zutreffender ist, weil eine klare politische Botschaft ja wahrscheinlich schwierig zu definieren ist, auch was die Referenzen betrifft. Die Referenzen sind unterschiedlich besetzbar. Du wurdest von einem Teil der Frauenbewegung gefeiert und von dem anderen verprügelt.
UO: Ja, so ist es.
BS: Wogegen richtete sich denn der Film? Was würdest Du sagen, war, in der damaligen Zeit, Deine ‹Angriffslinie›?
UO: Ich wollte nicht angreifen; ich hatte einfach Lust, etwas Spielerisches zu machen. Deshalb würde ich das gar nicht als Angriff bezeichnen. Nein, das wollte ich nicht. Aber mich irritieren Situationen, in denen Menschen entscheiden, von einem Tag auf den anderen etwas ganz anderes machen zu wollen. Das ist prinzipiell gut, doch wenn das mit diesem Bierernst getan wird, wie das zum Teil damals getan wurde, um dann alles zu verdammen, was nicht genau auf der Linie ist, dann sieht das anders aus. Ich hatte das gerade kurze Zeit zuvor in Paris erlebt. Und als ich dann wieder nach Deutschland zurückkam – ich war ja davor immer nur kurz in Deutschland gewesen und lebte nahezu ausschließlich in Paris –, hatte sich die Sprache verändert. Auch die Vorstellungen waren andere geworden und das fällt einem natürlich ganz besonders auf, wenn man lange weg war. Das hat mich interessiert und das war dann auch ein Beweggrund, den Film Madame X zu machen.
Wenn ich das heute sehe, wie das wieder eingeteilt wird und wie das wieder ‹ernst› wird, kann ich nur sagen, dass ich meinen Film eigentlich als ein Manifest für das Spielerische und für die Freiheit der Fantasie betrachte. Leider wird manches biologistisch gesehen, und auch das gefällt mir nicht. Ich empfinde das als Einschränkung und verstehe nicht, wie Menschen sich freiwillig solchen Zwängen unterstellen. Das ist mir eigentlich immer ein Rätsel. Wenn ich das heute sehe, dann denke ich, dass ich das damals sehr früh erkannt habe. Ich denke, das Problem war damals, dass für manche Frauen das, was sie wollten, so neu war, dass sie noch unsicher waren und sie deshalb eine Komödie oder etwas, was auch nur ein Quäntchen von ihrer Linie abwich, nicht ertragen konnten.
Lesen Sie hier einen persönlichen Geburtstagsgruß von Bernd Stiegler an Ulrike Ottinger.
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