Sergio Leones ebenso betörendes wie problematisches und letztlich bis heute unvollendetes Film-Epos Es war einmal in Amerika wurde 40
Was er all die Jahre gemacht habe, wird der ergraute Gangster David Aaronson, alias Noodles, der Antiheld von Sergio Leones Verbrechensepos Es war einmal in Amerika, gefragt, als es ihn nach Jahrzehnten der Flucht zurück ins alte Revier, die Lower East Side von New York, verschlägt. Für ein paar Sekunden wird er, gespielt von einem 39-jährigen, doch alt und faltig geschminkten Robert De Niro nachdenken, bevor antwortet: »Ich bin früh schlafen gegangen.«
Ob es ein Zufall ist, dass Leone den Antihelden seines vier Jahrzehnte umspannenden Opus Magnum den ersten Satz von Marcel Prousts Romanreihe Auf der Suche nach der verlorenen Zeit zitieren lässt? Es ist unwahrscheinlich, dass der bauernschlaue Berufsverbrecher sein Exil damit zubrachte, Prousts seitenstarkes Sittengemälde über Leben, Streben und Sterben im Fin de siècle-Frankreich zu studieren. Viel wahrscheinlicher ist es, dass Leone selbst die Jahre damit zubrachte, sich in Proust hineinzulesen. Die Zeit selbst steht im Mittelpunkt beider Werke, was nicht nur auf die jeweils epische Länge anspielt.
Doch es ist ein anderes, mit Prousts Werk kaum vergleichbares Stück «Literatur», das Leones Spätwerk bestimmte und überschattete. Harry Greys 1952er Crime-Schmöker The Hoods, die angeblich reale Lebensbeichte des angeblichen Gangsters Grey (alias Herschel Goldberg), zog Leones Aufmerksamkeit bereits Mitte der Sechziger auf sich. Seit jeher besessen von amerikanischer Filmgeschichte und Ikonographie zeigte sich Leone fasziniert und verbiss sich in den Vorsatz, die Hoods, eine Geschichte von Freundschaft, Gewalt, Macht und Verrat unter jüdischen Ganoven in den 1920ern und -30ern zu adaptieren.
Nachdem er sich mit der Dollar-Trilogie erfolgreich des Westerns, dem amerikanischsten aller Genres, angenommen und es mit Kunstfertigkeit, schriller Brutalität und surrealen Motiven als poppig-verspielten Edel-Pulp neu interpretiert hatte, sollte es nun der Gangsterfilm sein. Packende Zelluloid-Märchen über Verbrechen als Aufstiegschance, Lebenseinstellung und nicht zuletzt wirtschaftlicher Motor in grotesk überzeichneten Versuchsanordnungen über Ethnie, Klasse und Überlebenskampf in der neuen Welt. Wo der Western die Aufrechterhaltung weltlich-zivilisierter Tugend und Moral in der Wildnis zum Thema hatte, nahm das Crime-Genre sich des Verfalls dieser Werte in den industrialisierten Molochs der Metropolen an.
Ein Meister im Exil
Auch wenn das Genre sich, zumindest in den USA, in den 1960ern eher auf Talfahrt befand und die Glanzzeiten, in denen Macho-Karikaturen wie James Cagney (Der öffentliche Feind, 1931), Edward G. Robinson (Der kleine Cäsar, 1931) oder Paul Muni (Scarface, 1932) die Verwirklichung des amerikanischen Traums als derbes Gossentheater voller Überschwang darboten, vorbei waren, verliebte sich Leone immer mehr in die Hoods und verstieg sich in Pläne, den Stoff gleich nach seiner elegischen Pferdeoper Spiel mir das Lied vom Tod (1968) in Angriff zu nehmen. Der Erfolg eben jener opulenten Western-Meditation (für dessen Skript der spätere Giallo-Papst Dario Argento und ein aufstrebender Auteur namens Bernardo Bertolluci verantwortlich zeichnen), in der sich der rachsüchtige Geist des Westens gegen die Expansionswut der Industrialisierung und ihre gewissenlosen Vollstrecker richtet, sollte Leone in die nähere Auswahl für die Verfilmung eines gerade erschienenen Bestsellers katapultieren: Mario Puzos reißerischer Mafia-«Familien»-Roman Der Pate.
Ein Angebot, das Leone ablehnen musste, da in seinem Herzen nur für ein Gangsterepos Platz war und das war nicht der schmierige Schmöker Puzos. Diesen sollten ruhig andere verzapfen: Costa-Gavras, Peter Bogdanovich, Peter Yates, Arthur Penn oder dieser Nachwuchsregisseur aus der Corman-Schmiede, dieser Francis Ford Coppola. Die Hoods würden das wirkliche Gangster-Meisterwerk werden.
Der weltweite Erfolg, den Coppolas Verfilmung von 1972 erzielen würde, trat in Kombination mit den im Vorjahr veröffentlichten Hits Dirty Harry und French Connection eine (zu jener Zeit obligatorische) Welle italienischer Trittbrettproduktionen los: die Poliziotteschi. Anders als zuvor war Leone diesmal jedoch nicht der Klassenprimus der Bewegung, sondern ein mit der Größe seiner Ziele, Projekte und des eigenen Egos hadernder Meister a. D., der sich in die Rolle des Produzenten zurückzog und populäre Genre-Ware wie klamaukige Terence-Hill-Western (Mein Name ist Nobody, 1973), frivolen Italo-Ulk (Der Kater lässt das Mausen nicht, 1977) oder Gialli (Das gefährliche Spielzeug, 1979) aus dem Ärmel schüttelte. Wenn es ihn dann doch auf den Regiestuhl verschlug, dann eher widerwillig, wie im Falle des klugen Revolutionswesterns Todesmelodie (1971), für den ihm die Wunsch-Regisseure Peter Bogdanovich und Sam Peckinpah absprangen. Eine Fingerübung vielleicht, doch es sind die geschicktesten Finger im europäischen Film.
Für ein paar Autoren mehr
Dennoch sollen die 1970er ein Wanderjahrzehnt bleiben, in dem sich Leone ganz als Ideenverwalter und Redakteur einer Schreibwerkstatt verstand, in der sich das «Who is Who» der italienischen Drehbuchautorenzunft einfand. Sechs Autoren (inklusive Leone selbst) werden im Vorspann von Es war einmal in Amerika, wie die Hoods später heißen, einmal aufgelistet sein. Kurzzeit-Kollaborateure wie Stuart Kaminski und Norman Mailer nicht mitgezählt.
Da wäre Franco Ferrini, der sich als Autor blutiger Euro-Crime-Randale (Blutiger Schweiss, 1976) und fieser Gialli (Orgie des Todes, 1978) einen Namen erschrieben hat und der später als Autor des Vertrauens für das fast gänzlich in die Traumlogik freudscher Untiefen abgetauchte Spätwerk Dario Argentos in Erscheinung treten wird. Gut und gern will man ihm die surrealen Elemente und makabren Gewaltspitzen zuordnen, die den Film durchziehen werden. Es war einmal in Amerika: auch ein Horrorfilm…
Ihm zur Seite steht das allseits geschätzte und hochproduktive Vielschreiberduo Leonardo Benvenuti und Piero De Bernardi, die sich als Autoren für Leones heitere Produktionen ins Vertrauen des beleibten Römers geschrieben haben und deren burlesk-italienische Albernheit sich in gelegentlichen Vignetten (Stichwort: Säuglingsaustausch) ausdrückt. Es war einmal in Amerika: auch eine geschmacklose Komödie…
Ein Ausnahmetalent in Leones Autorenstall ist Franco Arcalli, der sich als Stammautor Bernardo Bertollucis als Spezialist für Portraits verhärmter Männerseelen profiliert hat. Verlorene, deren Hang zur Selbsttäuschung oft genug in der Selbstzerstörung endet. Arcalli sollte die Premiere nicht erleben. Er verstarb 1978, während er zeitgleich an Es war einmal in Amerika und Bertollucis Der Mond (1979) arbeitete: zwei mit Symbolik aufgeladene Dramen über jugendliche Schwärmer und das Ende der Unschuld.
So sehr Antiheld Noodles auch glaubt, dass die ehrgeizige Ballerina Deborah (Jennifer Connelly als Kind / Elizabeth McGovern als Erwachsene), die er als Heilige verklärt und der er sich nur mit Gewalt zu nähern traut, die Liebe seines Lebens ist, die ihn durch eine Erwiderung seiner Gefühle retten könnte, ist sein Freund/Komplize Max (James Woods) doch die prägendere Beziehung. Eine leicht verqueere Männerfreundschaft, in der sich die standesübergreifenden Rivalitäten aus Arcallis 1900-Skript (1978) ebenso spiegeln wie die selbstzerstörerischen seines letzten Tangos von Paris (1972). Es war einmal in Amerika: auch ein psychosexueller Abgrund…
Der prestigeträchtigste Name im Autorenblock ist Enrico Medioli, in dessen Portfolio sich zahlreiche Skripte für Luchino Visconti finden: Rocco und seine Brüder (1960), Der Leopard (1963), Die Verdammten (1969) oder Ludwig II. (1973): Mediolis Edelfeder brachte Meisterwerke zu Papier, die sowohl gesellschaftlich-historische Verschiebungen als auch den Menschen in ihrem Zentrum auf den Punkt zu skizzieren wussten. Wie kaum ein Zweiter versteht er es, einen historischen Bogen zu schlagen, der drei Zeitebenen umfasst, nahezu 40 Jahre Geschichte abdeckt und neben der Prohibition als Quantensprung für das organisierte Verbrechen zum Big Business auch die Einbeziehung der Schurken ins nationale Gewerkschaftswesen zum Thema hat.
Wenn sich die brutalen Aufsteiger an die Seite eines Gewerkschaftlers (Treat Williams als Jimmy-Hoffa-Stand-In) stellen, ihre Ausbeuter terrorisieren und korrupte Staatsdiener (Danny Aiello) zum Narren halten, zeigt Leone, auf wessen Seite er steht, vergisst jedoch nicht den Verrat vorwegzunehmen, den das organisierte Verbrechen am Proletarier begehen wird. Es war einmal in Amerika: auch und vor allem ein Epos mit dem Herz am linken Fleck…
Ein Triumph voller Bitterkeit
Vielleicht hätte Leone das Projekt auf ewig weiter verfeinert. Vielleicht hätten noch mehr Autoren ihren Beitrag geleistet, doch vielleicht ahnte Leone auch, dass auch Maestri nicht unbegrenzt Zeit zur Verfügung steht, ihr Meisterwerk zu vollenden. Der Legende nach fand Arnon Milchan Leone auf der Terrasse des Carlton Hotels in Cannes, wo er nur darauf wartete, sein Herzensprojekt an einen Produzenten zu geben, der wagemutig war, den Stein ins Rollen zu bringen. Ein Projekt, das im Kopf seines Machers bereits Einstellung für Einstellung fertig war, dessen italienische Geldgeber Gewehr bei Fuß standen, dessen Stab handverlesen war und das nur darauf zu warten schien, sich endlich nach all den Jahren in Bewegung zu setzen.
Im August 1982 war es schließlich so weit und die 15 Monate anhaltenden Dreharbeiten konnten beginnen. Während am Set bereits Ennio Morricones unsterblicher Score über Lautsprecher gespielt wurde, lieferten alle Beteiligten vor und hinter den Kameras die besten Arbeiten ihrer Karrieren ab. Die wahre Schlacht wurde jedoch nicht auf den Sets in New York, Montreal oder in den Studios der Cinecitta ausgefochten, sondern am Schneidetisch, wo Leone das nächste Jahr damit verbrachte, die Materialfülle zu bändigen und der komplexen Rückblendenstruktur den Feinschliff zu verleihen, den es braucht, um für das Publikum nachvollziehbar zu bleiben.
Schritt für Schritt wurde ein erster zehnstündiger Workprint schließlich auf 229 Minuten gestutzt. Eine Länge, in der Leones Film bei den 1984er Filmfestspielen in Cannes eine begeisterte Premiere feierte, die internationale Kritik verzückte und in europäischen Kinos auch vom Publikum goutiert wurde. Dem amerikanischen Markt jedoch wollte die mitproduzierende Ladd Company, die schon bei Ridley Scotts Blade Runner (1982) wenig Feingefühl im Umgang mit Künstlern bewiesen hatte, ein in Breite und Tiefe forderndes Werk nicht zumuten, kürzte es um rund 100 Minuten und ordnete es zu allem Überfluss chronologisch an. Die von Police Academy-Editor Zach Staenberg zerhackte und umsortierte Fassung ist eine schallende Ohrfeige für Leone und das Publikum, die zumindest als Kuriosität von Wert ist.
In Europa verehrt und in den USA als Reader’s-Digest-Version eher irritiert zur Kenntnis genommen, wurde Es war einmal in Amerika zum Schwanengesang, dessen Rehabilitierung der 1989 verstorbene Regisseur nicht mehr erleben sollte. Dennoch lassen die schiere Materialfülle und die Ahnung auf die Entdeckung weiteren Materials Filmfans und -Forscher:innen bis heute nicht los. Wie viel von Leones filmischem Schatz ist noch immer ungehoben? Existiert die sechsstündige Wunschfassung Leones, von der es heißt, dass er sie mehrmals in kleinem Kreise zeigte, wirklich? Was ist mit der angeblich längeren italienischen Fernsehfassung?
2012 erschien zunächst in Europa eine mit neuem Material versehene 251-Minuten-Fassung, doch wie viel wartet in den Archiven und Nachlässen auf seine Entdeckung? Die Zeit arbeitet gegen das Material. Überhaupt, die Zeit… Wie Noodles sich in den letzten Einstellungen des Films an seiner Opiumpfeife festhält und versucht, die Erinnerungen an das Paradies der Kindheit festzuhalten, bleibt auch dem geneigten Zuschauer nur der Moment des flüchtigen Rauschs über einen Film, der die Jahrzehnte überdauert und dessen Einmaligkeit mit jedem Jahr mehr zu glänzen scheint. Ein Moment von über vier Stunden… und doch zu kurz.
Robert Cherkowski
Dieser Beitrag stammt aus dem Filmkalender 2024. Auch der Kalender für 2025 enthält Portraits von Filmschaffenden und spannende Textbeiträge.
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