Ein Gastbeitrag des 35 mm Magazins zur Filmpionierin Lotte Reiniger

Noch immer hält sich die Mär, die Filmgeschichte bis 1965 sei immer männlich gewesen. Dabei war gerade die Frühzeit des Kinos noch sehr weiblich. Mit Regisseurinnen wie Alice Guy-Blaché oder Dorothy Arzner. Heute sind deren Leistungen fast vergessen (weshalb wir in unserer Ausgabe #22 an diese Filmpionierinnen erinnert haben). Teilweise liegt es auch daran, dass manche Männer die Errungenschaften der Damen einfach für sich reklamierten, oder ihnen von der Filmhistorie diese zugeschrieben wurden. Ein prominenter Fall ist Lotte Reiniger. Obwohl sie es war, die mit DIE ABENTEUER DES PRINZEN ACHMED (1926) den ersten abendfüllenden Animationsfilm erschuf, denken viele, diese Pioniertat wäre von Walt Disney mit SCHNEEWITTCHEN UND DIE SIEBEN ZWERGE (Snow White and the Seven Dwarfs – 1937) begangen worden. Dabei entstand Disneys Film erst elf Jahre später.

DIE ABENTEUER DES PRINZEN ACHMED (Reiniger 1926)

Lotte Reiniger war schon von Kindheitsbeinen an eine Filmbesessene. Die am 2. Juni 1899 in Charlottenburg geborene Meisterin des Scherenschnittfilms erzählte später die Geschichte, wie sie als kleines Mädchen vor einem Kino herzerweichend geweint hatte, weil sie als begeisterte Märchenleserin unbedingt den Kurzfilm DORNRÖSCHEN (1908) sehen wollte, dieser aber nicht mehr lief. Woraufhin die Kinobesitzer für das verzweifelte Mädchen den Film noch einmal besorgten und ihr in einer Privatvorstellung vorführten. Ein Ereignis, welches sicherlich ihre tiefe Liebe für den Film formte. Auch das Spiel mit den Schatten faszinierte sie, und so baute sie sich mit zwölf Jahren ihr erstes eigenes Schattentheater und entwickelte ein großes Talent für Scherenschnitte.

Der Scherenschnitt (auch Schattenriss oder Schwarzbild) ist eine aus China und Persien stammende Kunst, die im 17. Jahrhundert auch nach Europa kam. Beim Scherenschnitt wird Papier oder ein anderes flaches Material mittels einer Schere so bearbeitet, dass entweder der verbleibende Umriss oder die Ausschnitte oder beides ein Bild ergeben. Diese Scherenschnitte sind meist schwarz und werden vor einem kontrastierenden hellen Untergrund gezeigt. Bekannt ist der Scherenschnitt auch unter dem Begriff Silhouette. Dieser leitet sich von dem französischen Finanzminister Étienne de Silhouette (1709-1767) ab. Silhouette sollte die durch den Siebenjährigen Krieg am Boden liegenden Finanzen Frankreichs wieder auf Vordermann bringen. Er führte daraufhin Steuern für reiche Adlige ein, kürzte die Pensionen der Staatsbeamten und ergriff weitere Maßnahmen, damit der Staat ordentlich sparte. Dies stieß nicht überall auf Gegenliebe und böse Zungen behaupteten, dass er sein Schloss aus Geiz nicht mit Gemälden, sondern mit billigen Scherenschnitten schmücken würde. Mit der Zeit wurde sein Name dann ein Synonym für Scherenschnitte.

Vom Kindheitstraum zum Lebenswerk

Doch zurück zur jungen Lotte Reiniger. Diese wollte als junges Mädchen nun Schauspielerin werden und ging während des Ersten Weltkriegs an die Schauspielschule am Deutschen Theater. Dort wurde sie auch als Statistin eingesetzt und lernte Paul Wegener kennen, den sie sehr bewunderte. Die Pausen vertrieb sie sich damit, dass sie Silhouetten der Schauspieler*innen ausschnitt. Damit fiel sie Wegener auf, der ihr daraufhin den Auftrag gab, Scherenschnitte für die Zwischentitel seines Films RÜBEZAHLS TOCHTER (1916) anzufertigen. Drei Jahre später machte Wegener sie mit einer Gruppe junger Leute aus dem „Institut für Kulturforschung“ bekannt. Der dortige Leiter der Filmwerkstatt, Hans Cürlis, ermöglichte es Lotte Reiniger, ihren ersten Kurzfilm DAS ORNAMENT DES VERLIEBTEN HERZEN (1919) herzustellen. Die Silhouetten wurden aus schwarzem Photokarton mit einer Schere ausgeschnitten. Dann wurden die einzelnen Glieder mit Draht verbunden, um sie für die Aufnahmen bewegen zu können. Ebenfalls aus schwarzem Karton wurden die Landschaften, Städte und Ornamente ausgeschnitten. Als Hintergründe wurden transparente Lagen aus Butterbrotpapier verwendet. Dies alles wurde von Lotte Reiniger auf einem eigens für sie vom Filmtechniker Kucharski angefertigten Tisch animiert und fotografiert. Diesen Tisch sollte sie bis zu ihrem Lebensende nutzen. Der Tisch hatte eine Glasplatte, die von unten beleuchtet wurde. Darauf wurden die beweglichen Figuren gelegt. Eine oberhalb des Tisches angebrachte Kamera fotografierte Bild für Bild, sodass dadurch eine bewegte Szene entstand. Das Institut setzte viel Hoffnung in diese Art des Animationsfilms, und es arbeiteten auch noch Toni Raboldt und Richard Felgenauer an Scherenschnittfilmen. Doch als sich damit kein kommerzieller Erfolg einstellte, wurde die Produktion beendet. Am Ende blieb nur Lotte Reiniger dabei.

Am „Institut für Kulturforschung“ lernte sie auch den Kunsthistoriker Carl Koch kennen und lieben. 1921 heirateten die beiden. Lotte Reiniger sagte über ihren Ehemann: „Ich habe mich über all die Jahrzehnte allein durchgeschlagen und bin eine Art Ein-Frau-Unternehmung gewesen. Carl Koch stand mir seit 1919 immer zur Seite. Er war für alles Technische zuständig, für die Aufnahmeleitung und die Produktion meiner Filme.“ Bis zu Carl Kochs Tod im Jahre 1963 blieben sie sowohl privat als auch beruflich ein Paar.

Lotte Reinigers Hände bewegen eine Figur in THE ART OF LOTTE REINIGER (Isaacs 1971)

Anfang der 20er Jahre stellte Lotte Reiniger wiederum für Paul Wegener Trickfilmszenen für dessen Film DER VERLORENE SCHATTEN (1921) her. Und wie viele andere Avantgardekünstler nahm sie auch Werbeaufträge an. Wobei Werbung damals durchaus einen guten Ruf besaß. Für den bedeutenden Werbefilm-Produzenten Julius Pinschewer drehte sie Werbefilme wie DAS GEHEIMNIS DER MARQUISE (1922) für Nivea Creme. Nebenbei erschuf sie aber auch kurze Märchenverfilmungen wie ASCHENPUTTEL (1922).

Die Entstehung des PRINZEN ACHMED

1923 erhielt Lotte Reiniger das Angebot ihres Lebens. Der Bankier Louis Hagen hatte bereits einige ihrer Kurzfilme gesehen und großen Gefallen an ihnen gefunden. Also fragte er Lotte Reiniger, ob sie nicht Lust hätte, einen abendfüllenden Animationsfilm zu erstellen. Und das hatte sie natürlich. Hagen richtete ihr in der Garage seines Hauses in Potsdam ein Atelier ein und lies ihr völlig freie Hand. So entstand DIE ABENTEUER DES PRINZEN ACHMED als echter Interdependent-Film weit abseits der Weimarer Filmindustrie. Lotte Reiniger übernahm bei diesem Projekt das Drehbuch, die Figuren, die Dekorationen und die Animationen. Dabei wurde ihr von Alexander Kardan und Walter Türk assistiert. Carl Koch übernahm die Aufnahmeleitung und die Technik. Die Spezialeffekte und Hintergründe stammten von dem bedeutenden Avantgarde-Künstler Walter Ruttmann (der am Kampf der Zauberer arbeitete) und von Berthold Bartosch (der den Seesturm animierte). Für die Musik konnte der damals bekannte Komponist Wolfgang Zeller gewonnen werden. Dieser schrieb in engem Kontakt mit Lotte Reiniger eine symphonische Musik zum Film, die dann live aufgeführt wurde.

Teilweise mussten 50 Figuren auf einmal animiert werden. Und wenn die Tischlampe mal wieder flackerte, dann war die ganze Einstellung umsonst. Dummerweise bemerkte man dies aber immer erst, wenn der Film fertig entwickelt war. Insgesamt wurden 300.000 Einzelaufnahmen angefertigt, von denen am Ende 100.000 für den Film verwendet werden konnten. Nach drei Jahren Arbeit war der Film 1926 endlich fertig. Aus Dankbarkeit gegenüber ihrem großzügigen Mäzen, besitzt die Figur des Prinzen Achmed das Profil Louis Hagens.

DIE ABENTEUER DES PRINZEN ACHMED (Reiniger 1926)

DIE ABENTEUER DES PRINZEN ACHMED ist ein wunderbarer, ideen- und actionreicher Abenteuerfilm. Man könnte mutmaßen, dass Lotte Reiniger von Raoul Walshs 1924 in die amerikanischen Kinos gekommenen DER DIEB VON BAGDAD (The Thief of Bagdad – 1924) inspiriert war. So haben die Helden ähnlich klingende Namen (Achmed/Ahmed) und auch in Walshs Film gibt es viel orientalische Magie, wie auch ein fliegendes Pferd. Doch begann die Produktion von Reinigers Film bereits 1923 und Walshs Film wurde erst 1975 erstmals in Deutschland gezeigt. Vielmehr scheint eher Reinigers Film andere Produktionen inspiriert zu haben, wie den späteren, in England produzierten DER DIEB VON BAGDAD (The Thief of Bagdad – 1940). Bei Lotte Reinigers Film fühlt man sich aber vor allem an die wunderbaren Sindbad-Filme erinnert, an denen Ray Harryhausen ab den 50er Jahren mitgearbeitet hat. Denn Achmed stürzt von einem Abenteuer ins nächste und muss immer wieder gegen fantasievolle Monster antreten. Dabei kommt die Liebe nicht zu kurz und einen bösen Zauberer, der hinter all dem Ungemach steckt, gibt es natürlich auch. Wie Reiniger und ihr Team den Film gestaltet haben, lässt einen noch heute staunen. Irgendwann vergisst man beinahe, dass man nur Silhouetten sieht. Überraschend auch, wie durch die vielen kunstvollen Ornamente und die simpel, aber effektiv gezeichneten Hintergründe eine echte Raumtiefe entsteht. Das ist weit weg von einem einfachen Schattenspiel, sondern ausgesprochen filmisch aufgelöst. Nicht umsonst steht DIE ABENTEUER DES PRINZEN ACHMED bei unserer Zeitschrift in den Redaktionscharts mit den besten Animationsfilmen ganz oben.

Uraufführung in Berlin

Trotzdem fand der Film in Deutschland keinen Verleih. Also organisierte Lotte Reiniger selber eine Matinee in der Berliner Volksbühne am Bülowplatz. Dort erlebte DIE ABENTEUER DES PRINZEN ACHMED am 2. Mai 1926 seine Uraufführung für geladene Gäste wie die Regisseure Georg Wilhelm Pabst und Fritz Lang sowie Produzenten und Kolleg*innen aus der Film- und Theaterbranche. Die Kritiken waren phantastisch. Der Filmkurier vom 3. Mai 1926 schrieb:

Man ist im Film an Silhouetten nicht gewöhnt. Also wird man anfangs ein bisschen ermüdet. Allmählich aber wird man gefesselt und immer mehr begeistert, entzückt und entrückt.

Filmkurier, 3.5.1926

Und die Zeitung Vorwärts schrieb am 9. Mai 1926:

Wenn man bedenkt, dass jede der agierenden Figuren in allen ihren Gelenken beweglich sein muss … so kann man sich ungefähr eine Vorstellung davon machen, welch ein Wunderwerk hier geleistet ist. Aber auf das Technische allein kommt es ja nicht an, die Hauptsache ist, dass der Geist des Märchens hier in der filmischen Bilderfolge aufs Glücklichste neu geboren ist und dass die Welt orientalischer Wunder, fabelhafter Vorgänge und den Mitteln einer an türkischen und japanischen Vorbildern geschulten Silhouettenkunst neu geschaffen ist.

Vorwärts, 9.5.1926

Doch noch immer wollte sich kein Verleih des Filmes annehmen. Durch Vermittlung von Jean Renoir wurde der Film im Juli 1926 in der Comédie des Champs-Elysées in Paris aufgeführt. Dort war er dann so erfolgreich, dass er sechs Monate lief. Von dort aus machte der Film seinen Weg durch die ganze Welt und kam auf diese Weise auch wieder zurück nach Berlin, wo er im September 1926 im Gloria-Palast zu sehen war.

Erfolge im Tonfilm

Mit der Einführung des Tonfilms versuchte Musikliebhaberin und Mozart-Fan Lotte Reiniger mit ihren Filmen eine Symbiose von Schattenspiel und Musik zu erschaffen. Die Animation sollte dem Rhythmus und Takt der Musik folgen. Lotte Reiniger berechnete die Bewegung ihrer Figuren und ließ sie sich dann exakt zur Musik bewegen. Dazu musste sie die Vierundzwanzigstel Sekunde eines Bildes mit den Tonlängen in Einklang bringen. Dies entzückte auch bedeutende Komponisten. Von Igor Fjodorowitsch Strawinski erhielt Lotte Reiniger persönlich die Erlaubnis, ein Stück aus seiner Pulcinella-Suite als musikalischen Hintergrund für einen Silhouettenfilm zu verwenden. Und der englische Komponist Benjamin Britten schrieb sogar die Filmmusik für ihren ersten englischen Film THE TOCHER (1937).

Es entstanden Musikfilme wie 10 MINUTEN MOZART (1930), CARMEN (1933) und PAPAGENO (1935). Gerade bei CARMEN zeigt sich Lotte Reinigers Herangehensweise. Sie erzählt nicht nur die berühmte Oper in Kurzform nach, sondern verpasst ihr auch ein sehr viel freundlicheres Ende. So betritt Carmen auf der Flucht vor Jose die Stierkampf-Arena und verführt dort den Stier. Dies begeistert den Torero so sehr, dass beide gemeinsam auf dem Rücken des Stiers davonreiten. Was mit dem eifersüchtigen Jose wird, weiß man nicht. Bei den Figuren ließ Reiniger sich häufig von Bekannten inspirieren. So ist die Silhouette der Carmen der französischen Schauspielerin Catherine Hessling nachempfunden, ein Gastwirt Jean Renoir und unter den Zuschauern in der Stierkampfarena befindet sich Carl Koch.

Insgesamt stellte das Ein-Frau-Unternehmen Lotte Reiniger 50 Filme her, von denen heute noch ca. 40 verfügbar sind. Der Rest gilt leider als verschollen. Ein Teil des Nachlasses von Lotte Reiniger befindet sich im Tübinger Stadtmuseum, das Teile davon ständig im Lotte-Reiniger-Museum ausstellt. Ein anderer Teil des Nachlasses, inklusive Reinigers Tricktisch, befindet sich im Filmmuseum Düsseldorf, wo ein Teil der Dauerausstellung Lotte Reiniger gewidmet ist.

Marco Koch

Gekürzter Beitrag aus dem 35 mm Magazin #45 (März 2022).

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