Wolfgang Thiel zur Entstehungsgeschichte des Bandes Walzerfilme und Filmwalzer

Bei meinen musikalischen Film-Recherchen, die sich mittlerweile über fast fünf Jahrzehnte erstrecken, fiel mir im Laufe der Zeit zunehmend auf, dass in erstaunlich vielen Spielfilmen der gesungene, getanzte, geschunkelte, von einem einsamen Akkordeon oder großen Orchester vorgetragene Walzer eine wichtige dramaturgische Rolle spielt. Erstaunlich ist zudem, dass es sich hierbei sowohl um alte und neue, heitere und ernste, als auch spannende, dramatische und sogar düster-tragische Filmproduktionen rund um den Globus handelt. Dass Walzerklänge in Filmen wie Zwei Herzen im Dreivierteltakt oder An der schönen blauen Donau zu finden sind, liegt auf der Hand. Auch die zahlreichen Biopics über die ›Walzer-Sträuße‹, die jahrzehntelang beliebten Operetten-Verfilmungen sowie diverse Reise-, Liebes- und Lustspielfilme mit Stadtansichten von Wien und Paris kommen ohne einen Walzer als akustisches Lokalkolorit nicht aus.

Wenn aber Johann Strauß´ weltweit bekannter ›Donau-Walzer‹ beim Flug zu einer Raumstation wie in Stanley Kubricks 2001 – Odyssee im Weltraum und in der Maiwiesen-Sequenz aus Volker Schlöndorffs Literaturverfilmung Die Blechtrommel an herausgehobener Stelle erklingt oder der englische Komponist R.R. Bennett im Krimi Mord im Orientexpress die fahrende Lokomotive mit einem brillanten Orchesterwalzer ›zum Tanzen‹ bringt, wird die Sache interessant.

Eine klassische Walzerszene aus SISSI, DIE JUNGE KAISERIN (1956), © Kinowelt
Erste Erkennnisse

Neugierig geworden legte ich mir eine inzwischen auf fast 1000 Titel angewachsene und bis in die Gegenwart fortgeführte Chronik von Walzern und Walzerliedern in Spielfilmen aus aller Welt an. Der früheste Eintrag ist ein kurzer Stummfilm aus dem Jahre 1908 und ein Beleg für den internationalen Erfolg von Lehárs Operette ›Die lustige Witwe‹ auch in den USA.

Was brachte diese Statistik der 1000 Walzerfilme an ersten Erkenntnissen?

Zum einen, dass es bis heute im internationalen Kino kein einziges Jahr gegeben hat, in dem nicht ein Film mit Walzern Premiere gehabt hätte. Diese besondere Stellung und herausgehobene Verwendung des Walzers zeigt sich nicht zuletzt in den überaus zahlreichen Filmen (vor allem aus den 1930er und 1940er Jahren), die bereits im Titel (vom Walzerparadies bis zum Walzerkrieg) unmittelbar auf ihn verweisen.

Aber auch in den Jahren, in denen die Rockmusik ihre ersten Triumphe feierte, kamen beispielsweise in Filmen wie Truffauts Die Braut trug schwarz oder Fassbinders Katzelmacher ein melancholischer Streichorchester-Walzer von Bernard Herrmann und Franz Schuberts ›Sehnsuchtswalzer‹ im Sound eines verstimmten Kneipenklaviers zum Erklingen. Es muss also schon etwas Besonderes am Walzer sein, das diesen Tanz im Gegensatz zu den fast zeitgleich entstandenen Tänzen wie Polka und Galopp bis heute zu einem Indikator für Lebensfreude und hochgestimmte Erwartungen macht. Ebenso intensiv vermag ein ›böser‹, ›schwarzer‹ Walzer in Horrorfilmen wie Polanskis Mystery Thriller The Nine Gates (1999) das Gegenteil einer solchen positiven Gestimmtheit zu artikulieren.

Zum anderen zeigt die Chronik , dass die Filmbranche in Tausenden Varianten die ungeheure stilistische Vielfalt des Walzergenres für ihre inhaltlichen Ziele und dramaturgischen Zwecke zu erkennen und zu nutzen vermochte. Es gibt ja nicht nur den beschwingten Wiener Walzer sondern auch den melancholischen slawischen Moll-Walzer, die Pariser Valse Musette sowie den amerikanischen Swing Waltz. Und auch der ›Schwarze Walzer‹ ist nicht ohne historisches Vorbild, sondern verweist auf das Urmodell des langsamen, im stockenden Rhythmus sich bewegenden ›Valse triste‹ des Finnen Jean Sibelius. Neben der Verwendung von Walzern aus dem Tanzmusik-Repertoire sind zudem im Laufe der bisherigen Filmgeschichte hunderte Originalwalzer für das Kino entstanden, die an eine der tradierten Formen der Repertoirewalzer anknüpfen; sie aber auch für die jeweiligen filmischen Situationen abwandeln.

Von der Idee zum konkreten Projekt

Eine erste Frucht meiner Recherchen und Überlegungen war die Studie ›Kino im Dreivierteltakt. Die dramaturgische Funktion des Walzers im Spielfilm‹, die im Begleitbuch zur Ausstellung im Potsdamer Filmmuseum unter dem Titel Alles dreht sich… und bewegt sich. Der Tanz und das Kino 2017 im Schüren-Verlag erschienen ist. Aber mir war klar, dass auch nach dieser Veröffentlichung das Thema noch lange nicht abgearbeitet, sondern in Spezialstudien zur Geschichte, Ästhetik und Dramaturgie des Filmwalzers innerhalb verschiedener Genres weiterhin ausbaufähig sei.

In einem Telefongespräch mit meinem befreundeten Kollegen Hans Jürgen Wulff aus Westfalen machte ich ihn auf dieses Thema neugierig. Weitere Gespräche folgten, in denen wir erstaunt feststellten, dass es bisher zu dieser komplexen Thematik nur sehr wenig Literatur gibt, sodass viele thematische Bereiche nach wie vor als eine filmmusikwissenschaftliche Terra incognita bezeichnet werden können. So wurde allmählich die Idee zu einem Projekt geboren, das als Anthologie von Aufsätzen zu den verschiedensten Aspekten des Filmwalzers hier Abhilfe schaffen sollte. Ein Call for Papers erging an Kolleginnen und Kollegen der Musikwissenschaft, die am Film und an dessen Musik interessiert sind. Das Echo war überraschend groß. Zwar hat sich von den über vierzig Autorinnen und Autoren, die Bereitschaft zur Mitarbeit bekundeten, nur ein Teil hierfür wirklich an den Schreibtisch gesetzt. Aber das Spektrum der angebotenen Themen ist im Ergebnis faszinierend breit. Es zeigt nicht die sonst oft anzutreffende absolute Fokussierung auf den Hollywood-Film sondern deckt auch Bereiche im europäischen Film ab, die vorher noch nie untersucht worden sind.

Als das Projekt schließlich in jene Phase trat, in der nach dem Produzieren die Frage nach dem Publizieren sich stellte, setzte trotz vieler Bemühungen und Anläufe eine gewisse Stagnation ein. Sie wurde überwunden, nachdem Georg Maas als Dritter im (Herausgeber-) Bunde sowie als Autor und Initiator einer neuen Veröffentlichungsreihe der Hallenser Universität auf den Plan getreten war und publizistisch mit schöner Unterstützung des Schüren Verlags das Projekt zu einem glücklichen Ende führte. Und so vereint die Nr. 01 der neuen Reihe FILM MUSIK SOUND insgesamt 20 Aufsätze von 18 Autorinnen und Autoren zu Walzerfilmen und Filmwalzern im internationalen Kino aus Geschichte und Gegenwart.

Wolfgang Thiel

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