Pixar-Kurzfilme sind technisch virtuos, witzig, anrührend und mitfühlend.
Wer hat schon einmal beim Strandspaziergang am Meer die kleinen Vögel mit dem langen Schnabel beobachtet, die über den Sand rasen, tunlichst bemüht, von keiner auslaufenden Welle erwischt zu werden? An vielen Küsten gibt es diese Strandläufer, und man könnte meinen, mit PIPER eine jener Tierdokumentationen zu sehen, die dank hochauflösender Hightech-Kameras den kleinen Vögeln so nah kommen wie noch nie zuvor.
Jede Feder, jede Welle und jedes Sandkorn erlebt man in faszinierender Plastizität – und doch ist PIPER «nur» ein sechsminütiger, computeranimierter Mini-Spielfilm aus dem berühmten Animationsfilmstudio Pixar! Spätestens wenn der niedliche, kleine Titelheld aus seinem Versteck schaut, prägt der Kuscheleffekt die Wirklichkeit. Womit die Fabel zwar lustiger, aber nicht weniger wahr wird.
Mit runden Knopfaugen und strubbeligem Gefieder sträubt sich Piper, auf Nahrungssuche zu gehen, stemmt sich in den Sand und reißt demonstrativ den Schnabel auf, um Futter einzufordern. Schließlich aber muss er seiner Mutter doch zum Meer folgen, wo er prompt von einer Welle überrollt wird. Später schaut er einigen trickreichen Minikrebsen bei ihrer Nahrungssuche zu, und die Neugier gewinnt überhand. Als die nächste Welle über ihm zusammenschlägt, bestaunt er die Schönheiten der Unterwasserwelt und entdeckt die riesigen Vorräte an kleinen und großen Muscheln.
Die Entstehung der «Pixar Shorts»
Schon seit Langem entstehen in den im Jahr 1979 gegründeten Pixar Animation Studios solche «Shorts», kleine Meisterwerke, die als Experimentierfelder für ständig ausgefeilter werdende Digitaltechniken dienen, mit Fantasie und Herzenswärme zugleich aber auch künstlerisches Terrain erobern. In der Regel konzipiert als Beigabe zu den Pixar-Kinofilmen, sind sie inzwischen fester Bestandteil des Disney-Portfolios und auf der hauseigenen Streaming-Plattform zu sehen.
1986 wurde der zweiminütige Trickfilm DIE KLEINE LAMPE zu einem Meilenstein der Computeranimation – und die verspielte Baby-Leuchte Luxor jr. zum Markenzeichen von Pixar. Seitdem entstanden etwa 40 «Shorts», darüber hinaus Kurzfilmreihen um TOY STORY und CARS sowie muntere Lehrfilme wie das TOY-STORY-Spin-off FORKY HAT EINE FRAGE. In jeder Folge will die schräge Plastikgabel Forky wissen, was Begriffe wie Zeit, Liebe, Freund oder Geld bedeuten, auch fragt sie: Was ist Kunst? Dann doziert der Igel Sepp Stachel, dass Kunst die Kunst sei, durch Kreativität, Können und Vorstellungskraft Gefühle und Gedanken auszudrücken. Was Forky viel zu hochtrabend ist, obgleich er damit doch eine perfekte Gebrauchsanweisung auch für Pixar-Filme hat.
Die «Shorts» erzählen von Regenschirmen, Hunden, Kaninchen, Babys oder Monstern, und so genial wie die technischen Finessen sind ihre Sympathien für die Kleinen, die Außenseiter und die vermeintlich Hilflosen. Emphatisch und einfühlsam preisen die Geschichten deren talente, Gaben und Begabungen, die andernorts belächelt oder übersehen werden. Für alle Krisen finden die «Shorts» versöhnliche Lösungen, so auch für ein Energiebündel wie den kleinen Strandläufer Piper.
BAO (2018)
Alle «Shorts» sind ziemlich überdreht, aber auf die Idee, ein Baozi, eine chinesische Teigtasche mit Gemüsefüllung, zum Leben zu erwecken, kommt man wohl auch bei Pixar nicht jeden Tag. BAO (2018) wurde als erster Pixar-Kurzfilm von einer Frau inszeniert: Regisseurin Domee Shi wurde in China geboren und lebt in Kanada, ähnlich wie die von ihrem eintönigen, unerfüllten Hausfrauenleben enttäuschte Hauptfigur, die gedankenverloren in ein liebe- und kunstvoll zubereitetes Baozi beißt, das unerwartet zum Baby wird.
Stolz zieht sie es groß, und immer aberwitziger wird die Situation, als der Ersatzsohn zu pubertieren beginnt, rebelliert und schließlich mit seiner (menschlichen!) Freundin das Weite sucht. Im Kern ist das ein herzergreifendes Melodram um eine Frau mit Empty-Nest-Syndrom, vor allem aber ist es eine weitere, sehr poetische Pixar-Allegorie, bei der man den Duft des Hefekloßes ebenso zu riechen meint wie man die existenzielle Bedeutung des Essens und des Kochens erahnt. Wie Piper erhielt auch BAO den «Oscar» als Bester animierter Kurzfilm.
LOU (2017)
Lou ist ein liebenswürdiges, amorphes Wesen, das aus Gegenständen besteht, die in der Fundkiste eines Kindergartens schlummern. «Lost and Found», verloren und gefunden, steht auf der Kiste, und aus drei fehlenden Buchstaben dieses Schriftzugs hat Lou seinen Namen bekommen. Eifrig räumt er in jeder Pause den Spielplatz auf und erteilt dem Hort-Rüpel J. J. eine Lektion in Respekt und Toleranz. TOY STORY trifft auf FORKY HAT EINE FRAGE: Erzählt als rasantes, hochmoralisches Alltagsabenteuer, gibt der Kurzfilm komisch und zugleich subtil Lebenshilfe. Denn auch J. J. ist im Grunde seines Herzens ein «verlorenes» Pixar-Kind, das die Sehnsucht seines geliebten Plüschhunds verarbeitet.
Altersempfehlung für alle drei «Shorts»: ab 6 Jahren. Verfügbar auf Disney+.
Horst Peter Koll
Ein Auszug aus
Drachen reiten, Freunde finden, älter werden. Entdeckungen für junge Filmfans.
Horst Peter Koll sammelt in seinem Buch Empfehlungen für Kinder- und Jugendfilme und ergänzt jede ausführliche Besprechung durch zwei kürzere, dazu passende Besprechungen.
Drei weitere Rezensionen gibt es hier zu lesen.
Wissenschaftliche Perspektiven auf den Kinderfilm gibt es in
Von wilden Kerlen und wilden Hühnern.
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