Thomas Koebner über «Masken, Puppen und einsame Kinder»

Ein Auszug aus Thomas Koebners neuer Veröffentlichung «Masken, Puppen und einsame Kinder» über Stanley Kubricks Eyes Wide Shut (1999) und Kaneto Shindos Onibaba (1964).

«Jemandem die Maske herunter reißen», wird redensartlich als Akt verstanden, die Wahrheit ans Licht zu bringen, Betrüger, Heuchler, Intriganten und andere, die sich verstellen, bloßzustellen und deren arglistige Absichten aufzudecken. ‹Maske› bezeichnet in diesem Fall als Metapher das Arrangement eines falschen, oft scheinbar wohlwollenden Ausdrucks, der andere mit Vorsatz täuschen will. Die Maskenträger dieser Art fühlen sich oft sicher und unangreifbar hinter ihrer Larve, genießen vielleicht die Macht, die sie ausüben, indem sie ihre feindlichen Interessen hinter inszenierter Freundlichkeit verstecken: Unter der glatten Maske kann das Böse lauern.

‹Scream›: Die ‹populär› gewordene weiße Maske des Mörders
‹Scream›: Die ‹populär› gewordene weiße Maske des Mörders
(Wes Craven, USA 1996), © StudioCanal

Geheimbünde, die sich für eine neue Aristokratie ausgeben, wählen nach dem Vorbild christlicher Orden, Masken oder Kapuzen (so der rassistische Kukluxklan) als Zeichen der tabuisierten und keinen Widerspruch duldenden Herrschaft. Zudem macht es das gesichtsverdeckende Habit den Opfern der Aggression schwer, die Schar ihrer Verfolger zu identifizieren. Die Parallele zu krimineller Tarnung drängt sich auf. Fratzenhafte Clownsmasken auf den Gesichtern von Räubern sichern den Tätern bei ihrer gesetzbrechenden Selbsthilfe nicht nur Anonymität zu (und damit auch die Chance, straffrei davon zu kommen), sie demonstrieren Hohn und Spott auf die Ordnung einer Gesellschaft, die Konflikte
mit ‹offenem Visier› zu regeln gewohnt ist.

Ein weiterer Vorteil des Maskentreibens: der Spott auf die gültige Hierarchie im Karneval, die enthemmende Egalisierung von Oben und Unten, erleichtert durch Vermummungen, die Herkunft und Stand verschleiern. In Arthur Schnitzlers Erzählung «Traumnovelle» (1926) schleicht sich die männliche Hauptfigur in eine Gesellschaft, die sich wie ein Geheimbund nach außen abschließt und das Prinzip
der Orgie ernst nimmt: Die Frauen, komplett nackt, nur der Kopf bleibt durch Aufputz ins Unkenntliche entrückt, werden von einer lüsternen Männerhorde bedrängt. Wenn man es gleichnishaft verstehen will: Der Kopf als Metapher des Bewusstseins wird weggeblendet, nur die Instinkte des Körpers regieren. Der ertappte Eindringling darf gerade noch entkommen.

Stanley Kubricks ‹Eyes Wide Shut›

In Stanley Kubricks Film Eyes Wide Shut (GB/USA 1999), inspiriert durch Schnitzlers «Traumnovelle», wird der Held Bill (Tom Cruise) als nicht eingeladener Fremder erkannt, ungeachtet der Tatsache, dass er im Eingang der prächtigen Land-Villa eine Maske überstülpt, die das ganze Gesicht bedeckt. Er kennt nicht alle Einlass-Parolen. Die Versammlung, in die der Held gerät, schützt sich durchweg durch Masken, zum Teil venezianischen Stils, nach dem ersten Eindruck kostbar, mit dekorativen Applikationen bedeckt, ein anderer Teil von grotesker Phantastik, mit aufgerissenen Mündern, schnauzenförmigen Verlängerungen, Aufwölbungen der Stirn (als seien die Assoziationen ans Tierische durchaus gewollt).

‹Eyes Wide Shut›: Beim Maskenball einer geheimen Gesellschaft
Eyes Wide Shut: Beim Maskenball einer geheimen Gesellschaft
(Stanley Kubrick, GB/USA 1999), © Warner

Von dieser Stilisierung der ‹Kopfregion› ins Artiziell-Noble oder Derb-Bäuerliche stechen die langen strengen Gewänder ab, in die die meisten der Anwesenden gehüllt sind. Denn wider Erwarten inszeniert Kubrick keinen bacchantischen Taumel, keinen ausschweifenden Exzess, im Gegenteil eine gravitätische, furchteinflößende Zeremonie von strenger Etikette. Selbst die Nackten, die züchtig tanzen oder fast motorisch gleichmäßig miteinander koitieren, haben etwas Mechanisches, Steifes, Reglementiertes an sich. Die Umstehenden, bekleidet, bilden einen Fries fast gleichgültig abwartender, stummer Zuschauer.

Als Bill schließlich nach Hause zurückkehrt, und keine seiner Eskapaden zu einem guten oder ihn befriedigendem Ende gekommen ist, entdeckt er neben seiner friedlich und entrückt schlafenden Frau Alice (Nicole Kidman) auf seinem Kopfkissen die Maske, die er in der Villa getragen hat: verräterisches Anzeichen seines ‹Fremdgehens›, ‹Fremd-geworden-Seins›. Auch Ausdruck dessen, wie sehr er ihr, der Lebensgefährtin, rätselhaft geworden ist? Die Maske als Symbol der Vertrauenskrise zwischen beiden muss wieder der unmittelbaren Umarmung Platz machen, damit beide (vorläufig) Frieden finden.

Kaneto Shindos ‹Onibaba›

Ein schier endloses Dickicht überlebensgroßer Halme, die sich im Wind biegen, ein Labyrinth, in dem sich Wegunkundige verirren: Das ist der düstere Schauplatz der ins japanische Mittelalter versetzten Handlung des Films Onibaba (Kaneto Shindo, JP 1964). Zwei Frauen, Schwiegermutter und Schwiegertochter, warten (vergeblich) auf die Rückkehr des Sohnes und Ehemanns aus dem in der Ferne tobenden Krieg. Sie fristen ihr Dasein, indem sie landfremde Samurai aus dem Hinterhalt ermorden, um deren Rüstung und Waffen gegen Reis einzutauschen. Die Körper werfen sie in ein tiefes Erdloch.

‹Onibaba›: Die erleuchtete Maske des toten Samurai wird zum Schreckgespenst in der Nacht
‹Onibaba›: Die erleuchtete Maske des toten Samurai wird zum Schreckgespenst in der Nacht
(Kaneto Shindo, JP 1964), © Al!ve/Filmjuwelen

Als ein junger Nachbar, ein Deserteur, auftaucht, geben sich er und die junge Frau ihrer Leidenschaft hin, die ältere Frau bleibt zu ihrem Leidwesen ausgegrenzt. Eines Nachts lässt die Eifersüchtige einen Krieger in den Abgrund stürzen, der die starre und groteske Maske eines Dämons trägt, die mit Hörnern, weit aufgerissenen Augen unter zornig gewölbten Augenbrauen und gleichfalls aufgesperrtem Gebiss in der Tat erschrecken kann. Die Mörderin steigt an einem Seil in die Tiefe, um sich unter anderem auch der Maske zu bemächtigen. Die lässt sich nur mit Mühe ablösen, darunter kommt ein noch jugendliches, wohlgeformtes Gesicht zu Vorschein, das wie von Aussatz übersät ist.

Die Räuberin lässt sich dadurch nicht abschrecken und setzt sich die Maske selber auf, um nachts als Dämon die junge Frau auf ihrem Weg zum Liebhaber zu verscheuchen. Die Maske sitzt aber auch auf ihrem Gesicht fest und zerbricht nur unter schweren Schlägen. Und wieder ist die Haut darunter, jetzt der Schwiegermutter, von abstoßenden Aussatzflecken übersät. Die außen glatt geformte große Maske erzeugt innen Verfall, Verwesung, Unheil. Schlimmer noch, einmal aufgesetzt, ist sie kaum mehr abzuheben, als sauge sie sich auf dem Körper des Gastgebers vampirisch fest, als solle sie den ursprünglichen ‹Naturzustand› der skrupellosen ‹alten› Frau ersetzen, gewissermaßen als ihr wahres Gesicht das Teuflische in ihr deutlich kundtun.

Die Vorstellung einer magischen Verschmelzung zwischen Antlitz und Maske erregt zudem die flottierende Angst vor einer von geheimen Kräften aufgezwungenen Verwandlung, die nicht mehr korrigierbar ist, die man aus freiem Willen nicht mehr zurücknehmen kann.

Thomas Koebner

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