Zwischen Spiel und Lebensgefahr: Kinder wachsen über sich hinaus.

Zu Beginn des Films sieht man Kinder, wie sie fröhlich im Sonnenschein Ball spielen. Etwas später führen die Größeren von ihnen ein Stück mit Handpuppen auf, dem die Kleinen völlig gebannt zuschauen. Immer wieder wird in Fannys Reise gespielt: mit Puppen, einem Fußball, später sogar mit Geldscheinen, die ein Junge aus seinem Rucksack verliert, die im Wind über eine Wiese flattern und von Kindern eingesammelt werden.

«Spielen wir das Geldspiel noch einmal?», fragt ein kleines Mädchen, das wie die Übrigen für einen kurzen Moment vergisst, wie die Wirklichkeit tatsächlich ausschaut. Sorgsam hatte das Papiergeld ein Junge aus einer kleinen Gruppe jüdischer Kinder versteckt, die im Zweiten Weltkrieg vor deutschen Soldaten durch halb Frankreich fliehen, um in die rettende Schweiz zu gelangen.

Historischer Hintergrund

Den Hintergrund dieser spannenden-dramatischen Fluchtgeschichte erläutert eine Schrifttafel: Zwischen 1938 und 1944 vertrauten viele jüdische Eltern in Frankreich ihre Kinder Organisationen an, die sie aufnahmen und vor der Deportation schützten. Auch dies war in gewissem Sinne ein Spiel, freilich ein brandgefährliches Katz-und-Maus-Spiel: Die mutigen und selbstlosen Mitglieder der Organisation «Œuvre de Secours aux Enfants» mussten den nationalsozialistischen Schergen stets einen Schritt voraus sein, um die Kinder in Sicherheit zu bringen.

Eine dieser Kindergruppen steht im Mittelpunkt des Films. Die 13-jährige Fanny muss mit ihren jüngeren Schwestern Erika und Georgette sowie weiteren Kindern unterschiedlichen Alters aus dem Schutz eines Kinderheims fliehen und immer mehr Verantwortung übernehmen. «Du bist dickköpfig, und deshalb wirst du es schaffen», schärft man ihr ein. «Werde mutig, für die anderen Kinder, auch wenn du den Mut nur vortäuschen musst.»

Tatsächlich wächst Fanny über sich hinaus. Nie dürfen sich sie und die übrigen Kinder sicher sein, wenn sie sich in Scheunen oder Zugwaggons verbergen, überall lauern Verrat und Verfolgung. Zwischenzeitlich werden sie verhaftet, doch in entscheidenden Momenten erfahren sie auch solidarische Hilfe. Jedes der Kinder leidet auf seine Weise, vermag seinem jeweiligen Alter entsprechend die Gefahren mal mehr, mal weniger zu verstehen. Dass sie selbst in Momenten tiefster Erschöpfung und Verzweiflung spielen, gibt ihnen Halt, Geborgenheit und Trost.

Eindrucksvoll gelingt dem französischen Spielfilm der schwierige Spagat zwischen (Melo-)Dramatik und abenteuerlicher Spannung, historischer Wissensvermittlung und einfühlsamer Nähe zu seinen kleinen Heldinnen und Helden. Mal still, leise und intim, mal wuchtig und mit musikalisch kräftigen Akzenten, setzt die Inszenierung bis zum beglückenden, im doppelten Wortsinn befreienden Finale auf Gefühle. Dabei fängt der vielfach ausgezeichnete Film mit großer Zuneigung die Verletzbarkeit und Schutzbedürftigkeit «seiner» Kinder ein und feiert sie zugleich für ihren Mut, ihre Klugheit und ihren Durchhaltewillen – sowohl im Spiel als auch in der grausamen Wirklichkeit.

Altersempfehlung: ab 10 Jahren.

DIE LANGEN GROSSEN FERIEN (2015)

Der Zweite Weltkrieg, erzählt aus der Perspektive von Kindern für Kinder: Anrührend, einfühlsam und doch ungeschönt zeigt die großartige Serie aus Frankreich, dass sich Animations- und Antikriegsfilm nicht ausschließen müssen.

Im September 1939 kommen die Geschwister Ernest und Colette zu ihren Großeltern in die Normandie, wo sie in Zeiten voller Entbehrungen, Bedrohungen und der tiefen Ungerechtigkeiten aufwachsen. Die schönen Zeichnungen stehen in der Ligne-Claire-Tradition von Hergés Tim und Struppi und verdichten die Ereignisse mal heiter, mal dramatisch, immer aber punktgenau und stimmungsgeladen. Der weit gespannte Handlungsbogen der «langen großen Ferien» endet mit der Befreiung Frankreichs durch die Landung der Alliierten im Jahr 1944, und bis dahin werden aus den unschuldigen Kindern Ernest und Colette verantwortungsbewusste Jugendliche.

Altersempfehlung: ab 10 Jahren.

BELLE & SEBASTIAN (2013)

Belle ist eine herrenlose, weiße Pyrenäenberghündin, Sebastian ein siebenjähriger Waisenjunge. Im Herbst des Jahres 1943 begegnen sie sich in den französischen Hochalpen und werden zu Freunden in politisch unruhigen Zeiten. Denn auch in dem einsamen Bergdorf nahe der schweizerischen Grenze, in dem Sebastian bei seinem Großvater lebt, werden die Folgen des Zweiten Weltkriegs spürbar, als deutsche Soldaten nach jüdischen Flüchtlingen fahnden und die Bewohner verdächtigen, diesen bei der Überquerung der Alpen in die sichere Schweiz zu helfen. Eindrucksvoll verbindet der spannende Film die karge Berglandschaft im Wechsel der Jahreszeiten mit dem Abenteuer, in dem Sebastian über sich hinauswächst.

Altersempfehlung: ab 9 Jahren.

Horst Peter Koll

Ein Auszug aus
Drachen reiten, Freunde finden, älter werden. Entdeckungen für junge Filmfans.

Horst Peter Koll sammelt in seinem Buch Empfehlungen für Kinder- und Jugendfilme – und ergänzt jede ausführliche Besprechung durch zwei kürzere, dazu passende Besprechungen.
Hier können Sie drei weitere Filmbesprechungen über Pixar-Kurzfilme lesen.

Wissenschaftliche Perspektiven auf den Kinderfilm gibt es in
Von wilden Kerlen und wilden Hühnern.