Wie Alfred Hitchcock Essen, Mord und Sexualität inszeniert

Auf die Frage «Wie würden Sie gern ermordet werden?», antwortete Alfred Hitchcock: «Nun, es gibt viele nette Möglichkeiten. Essen ist eine gute.» Der Topos der Nahrungsaufnahme zählt zu den Leit­motiven in Hitch­cocks Œuvre. In nahezu jedem seiner 53 Spielfilme taucht mindestens eine Essensszene auf, die über eine rein ornamentale Funktion weit hinausgeht.

Screenshot aus Alfred Hitchcocks Film "Über den Dächern von Nizza"
Grace Kelly und Cary Grant in ‹Über den Dächern von Nizza›

Hitchcock präsentiert den Akt des Essens als alltägliche Handlung. Die spezifische Inszenie­rung verleiht den Szenen jedoch einen dramaturgischen Mehrwert. Es offen­ba­ren sich hier Subtex­te, die auf tiefer gehende Emotionen und atavistische Motive, wie gewaltsamer Tod, Sexualität, Ekel und Kannibalismus, verweisen. In dem Motiv des Essens manifestiert sich demnach ein Span­nungs­feld zwischen Ordnung, Kultur und Zivilisation einerseits und Chaos, Anarchie und Triebhaftig­keit andererseits.

Essen und Sexualität

Auch die Themen Liebe und Sexualität werden von Hitchcock gerne im Rahmen häuslicher und gastro­no­mi­scher Diskurse verhandelt.

Aufgrund der rigiden Zensurvorschriften im klassischen Hollywood-Kino durfte ein Kuss auf der Leinwand nicht länger als drei Sekunden dauern. Die explizite Darstellung von Verbrechen wird ebenso verdammt wie das Zeigen von Nackt­­­heit und sexuellen Aktivitäten.

Hitchcock umgeht die Zensur, indem er in Berüchtigt (Notorious, USA 1946) und später auch in Das Fenster zum Hof (Rear Window, USA 1954) und Der unsichtbare Dritte (North by North-west, USA 1959) einen eigentlich langen Kuss in viele kleine, kürzere Küsse aufteilt. Während der einzelnen Küsse unterhalten sich die Paare über das Essen und ihren Hunger, womit ihr gegen­sei­ti­ges sexuelles Verlangen metaphorisiert wird. Die bevorstehende Mahlzeit wird zum Synonym für den Geschlechts­akt, der nicht gezeigt werden darf.

In den genannten Filmbeispielen klingt bereits der Topos des metaphorischen Kannibalismus an. Hitchcock formuliert die Motivkette Nahrungsaufnahme, Sexualität und erotisch konnotierter Kannibalismus besonders vehement in zwei Szenen von Über den Dächern von Nizza (To Catch a Thief, USA 1955) und Psycho (Psycho, USA 1960) aus. Das begehrte Objekt wird nun quasi selbst zur Nahrung.

Doppeldeutiges Picknick

In der Picknick-Szene aus Über den Dächern von Nizza fragt Frances den Helden: «Wollen Sie Keule oder Brust?» – ge­meint sind doppeldeutig Hähnchenschenkel oder Hähnchenbrust. Kurz darauf zieht er sie zu sich hinunter und küsst sie. Der Kopf der Frau ruht dabei auf dem geöffneten Picknickkorb, aus dem sie ihm eben noch das Essen serviert hat. Der Kuss dient also als Ersatz oder Weiterführung der kulinarischen Einverleibung.

Die Verknüpfung zwischen den Motiven Essen, Sexualität und sexuell gefärbte Menschenfresserei wird in Psycho evident, wenn die von Norman Bates imaginierte «Mutter» gegenüber ihrem Sohn behauptet, Marion habe ein sexuelles Interesse an ihm. Mrs. Bates: «Wie denkst du dir das? Junge Mädchen in mein Haus zu bringen, zum Essen … Und was gibt’s zum Nachtisch? Leise Musik? Zärtliches Geflüster? […]. ‹Sie hat noch nichts gegessen.› Das kann ich mir denken, dass sie Appetit hat. Aber mehr auf meinen Sohn als auf ein Stück Brot.»

Alles deutet darauf hin, dass die Paarung von Essen und Sexualität eine tödliche Komponente bergen kann.

Gregor J. Weber

Und wie lädt Hitchcock die berühmte Flugzeugszene in Der unsichtbare Dritte mit Bedeutung auf? Lesen Sie es hier.

Auszug aus: Hitchcock und die Künste, hg. von Henry Keazor

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