Auszug aus einem Gespräch zwischen Josef Schnelle und Christian Petzold aus Der unsichtbare Dritte – Hitchcock und der deutsche Film

Bei Christian Petzold in Berlin-Kreuzberg. Er empfängt mich in seinem Kreativbüro, das auch für Besprechungen und Gespräche zum Beispiel mit seinen Schauspielern und Kollegen der verschiedenen Filmgewerke genutzt wird. Etwas später wird heute Paula Beer zu ihm kommen, sein Star auch in Roter Himmel, dem Film, mit dem er wenig später auf der Berlinale triumphieren wird. Seine Mitarbeiter sind bei Christian Petzold so etwas wie eine Familie, die die jeweiligen Phasen seines Filmschaffens prägen.

Das Sofa, auf das er sich setzt, knarzt ein wenig. Darauf soll er ein bisschen achten, damit meine Aufnahme sendefähig bleibt. «Legen wir doch gleich los», sagt Petzold. Bei der Fahrt hierher hatte ich noch einmal in einem Buch mit den Skizzen und Storyboards Hitchcocks zu seinen Filmen geblättert und auch Skizzen der Flugzeugszene aus Der unsichtbare Dritte (North by Northwest), Hitchcocks Film von 1959 gefunden, deren Beschreibung ich Petzold zur Einstimmung auf unser Gespräch vorlese.

Die Flugzeugszene aus ‹Der unsichtbare Dritte› (‹North by Northwest›)

Josef Schnelle: Woraus entsteht die Spannung dieser Szene?

Christian Petzold: Aus dem Raum, muss man wohl sagen. Einerseits sind wir einer Figur gefolgt: Cary Grant, der am Anfang noch Pralinen zu seiner Mutter schicken lässt und von seiner Mutter begleitet wird, der schon mehrmals verheiratet war und eigentlich noch ein Junge ist. Das ist ja fast so wie ein Entwicklungsroman, in dem eine Figur erwachsen und ein Liebender wird. Nun steht diese Figur auf einer amerikanischen Straße im Nirgendwo auf einer Kreuzung, steht da und ist vielleicht so verlassen wie noch nie in ihrem Leben.

Hitchcock macht immer zwei Dinge wunderbar. Er zeigt den Raum und dann zeigt er eine Aufladung im Raum. Es gibt, glaube ich, so eine riesige Totale am Anfang – die dann in der Filmgeschichte vielfach auch kopiert worden ist, und jetzt durch die Drohnen selbst im Vorabend der ARD stattfindet – und man sieht einen Mann ganz alleine auf einer Kreuzung stehen und warten. Ihm ist gesteckt worden, dass eine wichtige Kontaktperson ihm dort begegnen wird.

Diese wahnsinnige Totale und diese wahnsinnige Einsamkeit ist schon ein Hitchcockbild. Wenn man durch das Fernsehprogramm zappt an einem Samstag – heutzutage laufen ja nicht mehr viele Kinofilme im Fernsehen, weil das Fernsehen glaubt, mit den Eigenproduktionen könnte es das Kino ersetzen – würde man immer an dieser Szene, an dieser Stelle zum Beispiel, hängenbleiben, weil es ein Hitchcockbild ist. Dann sieht man ihn wie in einem Western gegen den blauen Himmel. Dann passiert eben dieser Angriff nach einiger Zeit durch das Flugzeug.

Man muss sich eigentlich fragen: Warum möchten diese bösen Mächte – um die es ja in diesem Film auch geht, da geht’s um Russen, irgendwelche Mac-Guffin-Geschichten – warum fahren die nicht einfach vorbei und knallen ihn ab? Es sind ja keine Zeugen da. Warum muss ein Flugzeug ihn angreifen? Was unheimlich schwierig ist, jemanden aus dem Flugzeug umzubringen und – das ist das Tolle an Hitchcock – immer kommt die Gefahr aus der Umgebung. Wir haben Maisfelder. Wir haben eine Agrarsituation. Wir haben einen Bauern, der da steht und sagt: ‹Komisch jetzt dahinten, um diese Zeit ist doch alles abgeerntet. Warum fliegt dahinten dieses Flugzeug lang, dieses Düngerflugzeug?› Und damit ist schon eine Irritation gesetzt.

Aus diesem Traumraum kommt der Angriff.

Mord im Gasherd: ‹Der zerrissene Vorhang› (‹Torn Curtain›)

Das ist das, was Hitchcock macht. Bei Der zerrissene Vorhang (Torn Curtain, 1966) wird mit dem Gasherd jemand umgebracht, der grad in der Küche ist. Man könnte
auch sagen: Warum schießen die denn nicht? Es muss aus dieser traumatischen Situation kommen, daraus kommt die Gefahr, daraus kommen die Waffen, daraus kommt auch die Überwindung der Gefahr.

Dann kommt noch was hinzu. Das ist ja ein sehr, sehr gut gekleideter Werbekaufmann aus New York, der einen phantastischen Anzug trägt, und ich glaube, Hitchcock hat ganz großen Spaß gehabt, ihn mit diesem Anzug in dieses staubige, abgeerntete Maisfeld flüchten zu sehen. Man sieht auch, wie verstaubt der ist, wie er seine ganze Herkunft und seine Klasse verliert, um im Grunde genommen «Mensch» werden zu können.

Und das ist im Grunde genommen diese Szene. Und was noch toll ist bei Hitchcock: der Einsatz von Bildern, die Blicke sind, die eine Aufzeichnung sind. Bilder, die aufgeladen sind und Bilder, die informativ sind. Wenn er mit dem Bauern da steht, der auf der anderen Seite der Straße auf einen anderen Bus wartet und mit ihm sich kurz unterhält, hat man eine Over-Shoulder, hat man ein Raumgefühl.

Aber es ist kein aufgeladenes Bild. Sieht man dann Cary Grant für sich und dann das, was er sieht, nämlich dieses Flugzeug am Horizont, das sich nähert, werden die Bilder beängstigend. Das Spiel von Hitchcock zwischen Information und traumhafter Aufladung. Das ist in dieser Szene phantastisch.

JS: Die endet ja – wie kann so was enden – mit einer Explosion. Wie kommt man da raus, das geht ja gar nicht anders.

CP: Ja, da kommt noch ein Tankwagen. Das Flugzeug kracht in den Tankwagen. Dann stiehlt er noch einen Pick-Up mit ’ner Art Kühlschrank obendrauf, um zu fliehen. Was mir auch gut gefällt: die Details, die Hitchcock auch immer sehr präzise setzt, hier z. B., dass der Besitzer dieses Pick-Ups ein Mexikaner
ist, der O-beinig hinter ihm herläuft, wild gestikuliert und schreit, dass er bestohlen worden ist. Eine Art Chaplin-Szene ist das. Das macht er sehr gerne.

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Und wie inszeniert Hitchcock Essen und Sexualität? Lesen Sie es hier.

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