Ein Auszug aus Thomas Koebners Die Erfindung des Abenteuers über den 2001 erschienenen Roman von Yann Martel

Die Vorgeschichte nimmt ein Drittel des Buchumfangs ein. Dann erst beginnt das wahre Abenteuer für Piscine Molitor Patel, kurz Pi Patel. Er wächst in Pondicherry auf, an der Ostseite des indischen Subkontinents. Sein Vater betreibt einen Zoo, Pi ist bald mit vielen Tieren vertraut.

Zudem beschäftigt die Religion den jungen Mann: der Hinduismus, das Christentum und auch noch der Islam, alles auf einmal. Er scheint von Gottes Offenbarungen nicht genug zu kriegen. So subtil die Auseinandersetzung mit den verschiedenen Glaubensordnungen ausfällt, die sich nur bei Pi nicht gegenseitig ausschließen, der Disput der Konfessionen verliert abrupt an Bedeutung im Hauptteil der Erzählung.

In Ang Lees Verfilmung (USA 2012) verkörpert Suraj Sharma Pi (Bild © Sony)

Pis Vater löst den Zoo auf und plant den Umzug der Familie, einschließlich etlicher Tiere, nach Kanada. Nach der friedlich launigen Einleitung mit ihren Familienszenen, zoologischen Exkursen und Spekulationen über die Vielfalt der Gottesdienste kommt es zur unerwarteten Katastrophe. Auf der Überfahrt geht das Frachtschiff aus ungeklärter Ursache unter, nur Pi überlebt auf einem Rettungsboot. Zunächst drängen sich in dem Kahn, in «Pis Arche», auch noch vier Tiere zusammen, ein Zebra, ein Orang-Utan, beide werden Opfer einer Hyäne, die schließlich von einem bengalischen Tiger totgebissen wird, der Richard Parker heißt.

Der Kampf mit der drohenden Lebensgefahr in Gestalt des Tigers hilft Pi, die lange ‹Reise› überhaupt zu überstehen. Er versucht mit einigem Erfolg, Reviere abzugrenzen und das Raubtier zu domestizieren. Pi ist enttäuscht, dass Richard Parker, nachdem das Boot in Mexiko gestrandet ist, in den Dschungel springt, ohne sich noch einmal umzuwenden, ohne Abschied zu nehmen – es scheint, als sei die riesige Wildkatze für den 16-jährigen Helden ein Freund geworden, vor dem er sich in acht nehmen, um den er sich aber auch kümmern muss.

Ausnahmesituationen auf offener See

Dabei bastelt Pi am Anfang ein kleines, wackliges Rettungsfloß aus Rudern und Schwimmwesten, um Abstand zu gewinnen zu dem im Boot rumorenden Tiger. Dieses merkwürdige, kaum zu zähmende ‹Haustier› ist nicht das einzige Problem für den Schiffbrüchigen. Denn zweitens: Die Naturgewalt in Form von Sturm, Gewitter, hochschäumendem Wogen oder lähmender Meeresstille verlangt Pi die Kraft zum Widerstand gegen diese überwältigenden geistigen und körperlichen Attacken ab.

Drittens: Der Blick zum sternenübersäten Nachthimmel hinauf oder in den leuchtenden Ozean hinab sorgt vermutlich für erhabenes Schaudern und erinnert daran, wie verloren das winzige und zerbrechliche Boot mit seinen zwei Insassen vor diesen unendlichen Räumen absticht. Viertens: Hunger und Durst lassen sich anfangs durch den im Boot gestauten Proviant stillen. Pi lernt, Regenwasser aufzufangen. Doch woher soll er etwas zu essen nehmen? Fische beißen selten an. Er ertappt sich dabei, dass er sogar die Exkremente des Tigers überprüft, ob sie essbar seien.

Das Bedürfnis, sich zu sättigen, plagt ihn fast ununterbrochen. So erfährt man von vielen Fundorten mit nahrhaften Substanzen in Meerestieren, Fundorte, vor denen man im zivilen Leben wahrscheinlich voller Ekel zurückschrecken würde.

Ang Lees Darstellung des Abenteuers auf offener See: Radikaler lässt sich die Einsamkeit des Schiffbrüchigen nicht in Bildern ausdrücken. (Bild © Sony)
Ein Unglück nach dem anderen

Diese Ausnahmesituation kippt in die nächste, als das Boot an eine schwimmende Algeninsel stößt. Während sich Pi mit den süßen Algen vollstopft und lustvoll in die Süßwassertümpel eintaucht, räubert der Tiger unter den zahllosen Erdmännchen, die dieses sonderbare Eiland bevölkern.

Doch nachts schlägt die gastfreundliche Idylle ins Gegenteil um: Die Insel saugt Meeresfische in die Süßwasserlöcher, in denen sie verenden, und zersetzt sie, frisst sie. Der Algenboden sondert Säure ab. Auf einem der ihm unbekannten Bäume geborgen, umzingelt von pelzigen Erdmännchen, entdeckt Pi in einer Knospe einen menschlichen Zahn, Überbleibsel eines Unglücklichen, der wohl zu spät auf den unheilvollen Wechsel zwischen Tag und Nacht auf der Insel aufmerksam geworden ist. Pi und der Tiger setzen sich wieder ab von diesem tückischen Paradies.

Als nächstes, nach einem unbestimmten Zeitverlauf, schabt das Boot über den Sand der mittelamerikanischen Küste. Der Interviewer, dem Pi – inzwischen ein gesetzter Familienvater in Kanada – sein Leben erzählt, erfährt noch, dass zwei Abgesandte des japanischen Verkehrsministeriums den noch bettlägerigen Protagonisten in der Klinik aufsuchten. Diese ersten Zuhörer waren anscheinend
unzufrieden mit Pis Darstellung der ‹Schlacht› der Tiere auf dem Rettungsboot. Also ersetzte Pi die Tiere durch Menschen: den abscheulichen Koch, seine eigene Mutter, einen verletzten jungen Matrosen.

Aber diese pseudorealistische Version der Geschichte missfiel den beiden Japanern noch mehr. Was das Schiffsunglück ausgelöst haben mochte, konnte ihnen ihr Augenzeuge ohnehin nicht sagen. Die Knochen von Erdmännchen im Boot sollten wenigstens beweisen, dass es die Algeninsel gegeben habe. Doch enthält die Erzählung vom Schiffbrüchigen und dem Tiger neben der Erwähnung fast unerträglicher Pein genug Märchenhaftes, damit sie als Kombination zwischen Fantastik und Dokument gelten kann, geschrieben von einem legendären Sindbad dem Seefahrer und einem realitätstüchtigen Robinson Crusoe gleichermaßen.

Emotionale Zurückhaltung

Der Trauer über den Verlust der Eltern und des Bruders beim Untergang des Frachtschiffs wird erstaunlich wenig Platz eingeräumt. Lakonische Hinweise auf gelegentliche Ausbrüche von Klagen, kurz nach dem Schockerlebnis, scheinen auszureichen. Diese emotionale Zurückhaltung verblüfft, da den Lesern die in
eine ‹Wärme-Aura› gebetteten Familienszenen des ersten Teils noch vor Augen schweben. Wahrscheinlich beansprucht der ‹Kampf ums Überleben› den jungen Helden so sehr, dass ihm weder Zeit noch Ruhe bleiben für ‹Erinnerungen schöner Tage› und den Schmerz, den der plötzliche Tod der eng vertrauten Verwandten auslöst.

Keine Zeit zu Trauern: Suraj Sharma als Pi (Bild © Sony)

Außerdem scheint Richard Parker die in Pis Seele aufgerissene Leerstelle, den Platz der verlorenen Familie, als bedrohliches ‹Sorgenkind› einzunehmen. Sicherlich ist es bezeichnend, sozusagen genretypisch, für die Erzählung von stets neu auftauchenden Hindernissen und Herausforderungen, dass der Blick des Helden nach vorne gerichtet ist und nicht zurück. Pi ist fast ständig in Aktion; selbst wenn es nichts zu tun gibt, schreibt er ein Tagebuch. Er wirkt bisweilen erschöpft, doch selten von Melancholie spürbar angekränkelt. Ist er zu jung für solche Empfindungen? Oder lässt sich sein stabiles Naturell nicht so leicht einschüchtern?

Parabeln und Symbolik

Das Gleichnishafte der Erzählung liegt auf der Hand: Pis Meeresfahrt lässt sich als existenzielle Parabel verstehen. Allein auf dem Boot und doch nicht allein (ein Tiger ist selten ein mitfühlender Geselle) wird Pi während der langen Pazifik-Überquerung vom vernichtenden Gefühl der Einsamkeit umlauert. Seine relative Freiheit wird durch das Meer, das Boot, Reviergrenzen beschränkt. Auch ohne handfeste Gitter kann sich der Schiffbrüchige als Gefangenen sehen.

Und wen oder was könnte der Tiger symbolisieren? Die nur mühsam gehemmte Angriffslust des animalischen Triebes, den Pi von Fall zu Fall zu beherrschen lernt? An Land eingeübte Prinzipien werden in der Praxisprüfung über Bord geworfen. Der tierliebende Vegetarier Pi schlägt mit der Axt auf einen Fisch ein und isst von ihm. Statt des Gekochten tritt das Rohe auf den Speisenplan. Pi gemahnt in solchen Szenen an einen archaischen Höhlenbewohner, der in einer kaum berechenbaren Umwelt ohne das hilfreiche Feuer auskommen muss.

Die Abenteuer des unfreiwilligen Seefahrers Pi haben einen definitiven Abschluss gefunden. In Anbetracht der Erfahrungen mit der verstörenden Langzeitwirkung von tragischen Verlusten (hier der Tod der Eltern und des Bruders beim Schiffsunglück) und Perioden gefahrdrohenden Schreckens (hier die Bootsfahrt mit dem Tiger über den Pazifik) ist Pis glatter Übergang in das bürgerliche Normensystem zumindest erstaunlich. Es liegt nahe, die ganze Fabel als Übersetzung eines Ablöseprozesses ins Allegorische zu deuten – Ablösung von der alten Identität und unter anderem ihrer vielfachen Loyalität zu konkurrierenden Religionsbekenntnissen.

Thomas Koebner

Hier können Sie weiterlesen…