Im Namen des Vaters wird 1993 zu einem der erfolgreichsten Filme über den Nordirlandkonflikt
Obwohl Historiker den Beginn des Nordirlandkonflikts, im Volksmund überraschend harmlos klingend als «The Troubles» bezeichnet, auf 1969 datieren, als die Gewalt zwischen den katholischen Republikanern bzw. Nationalisten und den protestantischen Unionisten bzw. Loyalisten eskalierte, hatte das gespaltene Land schon eine bewegte Geschichte hinter sich. Schon im 12. Jahrhundert waren Teile Irlands erstmals von Briten besetzt worden, 1921 war es zur Teilung des Landes in die Republik Irland und das Großbritannien zugehörige Nordirland gekommen. Ein Schritt, der die Stimmung im Land beruhigen sollte und dies für einige Zeit zumindest an der Oberfläche tat, gleichzeitig aber die Gräben weiter vertiefte. Trennungen verlief entlang sozialer, politischer und religiöser Zugehörigkeiten, wobei der Glaube immer weniger wichtig wurde, wenn die irischen Nationalisten und die pro-britischen, nordirischen Unionisten aneinandergerieten. Es kam zu einem Bürgerkrieg, zu einem «Wir gegen die», in dem die konkreten Gründe für die gegenseitige Feindschaft zunehmend abhanden kamen und durch einen historisch gewachsenen Hass auf die Gegenseite ersetzt wurden.
So erzählen auch viele Filme über den Nordirlandkonflikt eher von den persönlichen Schicksalen und den individuellen Erfahrungen zu dieser Zeit, weniger von konkreter Politik. Im Namen des Vaters (1993), der für sieben Oscars nominiert war, darunter auch die Auszeichnung für den besten Film, aber keinen gewann, bildet da keine Ausnahme. Jim Sheridans Justizdrama basiert auf der wahren Geschichte des Nordiren Gerry Conlon, der mit drei Landsleuten eines Bombenanschlags in London bezichtigt wurde und 14 Jahre unschuldig im Knast saß – unter anderem deshalb, weil die britische Öffentlichkeit Sündenböcke benötigte und die Strafverfolger entlastende Beweise verschwinden ließen.
Sheridans Film stellt die Beziehung Gerrys (Daniel Day-Lewis) zu seinem Vater Guiseppe (Pete Postlethwaite) in den Mittelpunkt, der als vermeintlicher Mittäter ebenfalls zu mehreren Jahren Haft verurteilt wurde. Gerry, ein junger, impulsiver Tagedieb, ist das Gegenteil zu seinem pflichtbewussten, ruhigen Vater, die Differenzen der beiden gegensätzlichen Männer verschärfen sich nur, als man sie gemeinsam einpfercht und Gerry zunehmend rebelliert. Erst dramatische Ereignisse, darunter Misshandlungen durch die Wärter, die Guiseppes Gesundheitszustand stark verschlechtern, schweißen die Familienangehörigen wieder zusammen, die mit Hilfe der Anwältin Gareth Peirce (Emma Thompson) darum kämpfen ihre Unschuld zu beweisen.
Im Namen des Vaters beschreibt ein Unrechtssystem bei der Justiz und hinter Gittern, das Irrtümer nicht eingestehen, sondern lieber vertuschen will. Selbst als Joe McAndrew (Don Baker), ein tatsächlicher IRA-Terrorist, sich zu den «Guilford Pub Bombings» bekennt und in die gleiche Haftanstalt wie die Conlons gesteckt wird, will niemand den Fehler korrigieren – was jedoch ein Problem in vielen Justizsystemen ist. Dementsprechend stellt auch Im Namen des Vaters die Einzelschicksale in den Mittelpunkt eines stark gespielten, wenn auch etwas konventionellen Gefängnisdramas. Interessant ist jedoch, dass Gerry in McAndrew zeitweilig eine Art Ersatzvater findet, dem IRA-Mann weniger aus ideologischen Gründen, sondern auf der Suche nach Zugehörigkeit folgt, ehe er sich später wieder seinem leiblichen Vater annähert, nachdem er die grausame Seite McAndrews kennengelernt hat. Dieser nimmt – bezeichnenderweise während eines Screenings von Der Pate (1972) – Rache an einem verhassten Gefängniswärter. So stehen bei vielen Filmen über den Nordirlandkonflikt Familienkonstellationen im Mittelpunkt. Vielleicht auch deshalb, weil die «Troubles» ein Krieg unter Brüdern waren, ein Krieg, der von Vätern an Söhne vererbt wurde.
Das Persönliche im Politischen
Selbst in den Actionthrillerstoffen Hollywoods ist dies ein roter Faden. In der Tom-Clancy-Adaption Die Stunde der Patrioten (1992) entspinnt sich ein Konflikt zwischen CIA-Analytiker Jack Ryan (Harrison Ford) und IRA-Terrorist Sean Miller (Sean Bean), nachdem der US-Amerikaner die Entführung eines britischen Lords durch IRA-Leute vereitelt und dabei Millers Bruder tötet. Ryan handelt dabei auch aus Selbstschutz, hat er doch seine Frau und seine Tochter bei sich. Im dramatischen Finale des Films wiederum attackieren der Schurke und seine Schergen Ryans Eigenheim – Politisches und Privates sind hier verbunden. Auch in Vertrauter Feind (1997) ist der irischstämmige US-Cop Tom O’Meara (wieder Harrison Ford) augenscheinlich weniger darüber erzürnt, dass der Ire Rory Devaney (Brad Pitt), den er als Gast bei sich aufnahm, eigentlich der IRA-Terrorist Frankie McGuire ist und in den Vereinigten Staaten Stinger-Raketen für den Kampf gegen die britische Armee kaufen möchte, sondern dass der Ersatzsohn, der bei ihm, seiner Frau und seinen drei Töchtern unterkam, sein Vertrauen missbraucht hat. Frankie wiederum verlor seinen leiblichen Vater als Achtjähriger, als dieser aufgrund seiner republikanischen Überzeugungen erschossen wurde, und gerät in Gewissenskonflikte, da auch er in dem amerikanischen Gesetzeshüter eine Vaterfigur sieht.
Das Karfreitagsabkommen von 1998 sorgte für ein Ende des Bürgerkriegs, doch der Friede erscheint immer wieder brüchig, gerade in den Zeiten des Brexits und populistischer Politclowns in der Downing Street. The Foreigner (2017) erzählt von der Gefahr eines erneuten Bürgerkriegs, als eine Terrorgruppe namens «Authentic IRA» ein Bombenattentat verübt. Dabei töten sie die Tochter des chinesischen Einwanderers Ngoc Minh Quan (Jackie Chan), eines Vietnamveteranen, der selbst nach den Verantwortlichen sucht, als er Behördenversagen wittert. Wieder wird die Familie zum Motor der Handlung, auch wenn mit dem Sinn-Féin-Abgeordneten, stellenvertretenden Premierminister und Ex-IRA-Terroristen Liam Hennessy (Pierce Brosnan) ein politisches Gegenwicht etabliert wird. Quan glaubt, dass dieser die Attentäter deckt, während der Politiker hinter den Kulissen in den Reihen seiner früheren Kameraden nach der Splittergruppe sucht. Es sind jüngere republikanische Kämpfer, die gegen den politisch-gewaltlosen Weg der Altvorderen rebellieren – ähnlich wie Gerry Conlon in Im Namen des Vaters den Wegen Guiseppes misstraut, dessen Anrufung einer Anwältin er für Zeitverschwendung hält. Der Generationenkonflikt der IRA-Kämpfer ist ein weiteres wiederkehrendes Thema: Auch in Die Stunde der Patrioten wollen die eigenen Leute den unkontrollierbaren Miller liquidieren.
Die irische Filmprominenz kehrt immer wieder zu dem Thema der «Troubles» zurück. Schauspieler Gabriel Byrne gehört zu den Produzenten von Im Namen des Vaters, viele Darsteller spielten in mehreren Filmen über den Nordirlandkonflikt mit, Regisseur Jim Sheridan nahm sich des Themas außerdem in The Boxer (1997) an. Sheridans früherer Uni-Dublin-Kommilitone Neil Jordan dürfte der in dieser Hinsicht wohl profilierteste Regisseur sein. Schon sein Spielfilmdebüt Angel (1982) erzählt von dem Musiker Danny, gespielt vom späteren Jordan-Regular Stephen Rea, der Augenzeuge von Morden durch Loyalisten wird und diese rächen will. Sein vielleicht bekanntester Film The Crying Game (1992) handelt von dem IRA-Terroristen Fergus (natürlich Stephen Rea), der erst eine Beziehung zu dem gekidnappten britischen Soldaten Jody (Forest Whitaker), den er bewachen soll, aufbaut, später ein Verhältnis mit Dil (Jaye Davidson), der Freundin des Soldaten, beginnt. The Crying Game war nicht nur wegen seines (mittlerweile weitestgehend bekannten) Plottwists, sondern auch wegen seiner sympathischen Darstellung des IRA-Terroristen ein veritabler Aufreger. Aber auch dies sind zwischenmenschliche Dramen, die im Spannungsfeld der «Troubles» stattfinden. Politische Ursachenforschung betreibt Jordan dagegen in Michael Collins (1996), in dem Liam Neeson den titelgebenden Politiker, Revolutionär und IRA-Mitbegründer gibt. Collins wurde allerdings schon 1922, lange vor dem Beginn der «Troubles», ermordet.
Vom Bloody Sunday…
Ausgerechnet zwei nicht-irische Filmemacher lieferten beeindruckende Arbeiten ab, die Einzelereignisse politisch hervorragend verorten können. Der britische Regisseur Paul Greengrass zeichnet in Bloody Sunday (2002) ein fast dokumentarisches Porträt des Blutsonntags von 1972, als britische Fallschirmjäger 27 Demonstranten erschossen. Mit an Nachrichtensendungen erinnernden Handkamerabildern wechselt Greengrass zwischen dem nordirischen Politiker und Demo-Organisator Ivan Cooper (James Nesbitt), den Teilnehmern seines Protestmarsches und den britischen Soldaten hin und her. Ohne zu eindeutig Stellung zu beziehen erzählt der Regisseur von einem blutigen Augenblicksversagen, als die Fallschirmjäger losfeuerten, weil sie sich unter Beschuss glaubten. Greengrass sucht keine Ausflüchte, zeigt die angespannte Stimmung und das erbarmungslose Vorgehen der Soldaten, verdeutlicht aber auch, dass der eigentliche Skandal auf der Führungsebene zu finden ist, als die Offiziere die Schuld der Fallschirmjäger systematisch vertuschen. Das Publikum ist hautnah dabei, wenn Steine geworfen, Demonstranten erschossen und einem Getöteten gefälschte Beweise untergeschoben werden. Unaufdringlich lässt Greengrass einfließen, dass viele der Getöteten gerade mal Teenager waren.
Der französisch-algerische Filmemacher Yann Demage wählt in seinem ebenfalls viel mit Handkamerabildern arbeitenden ’71 – Hinter feindlichen Linien (2014) einen ähnlichen Ansatz, erzählt aber von dem britischen Soldaten Gary Hook (Jack O’Connell), der mit seiner Einheit 1971 nach Belfast beordert wird. Bei einer Hausdurchsuchung in einem katholischen Viertel wird er von seiner Einheit getrennt, muss sich durchschlagen, während ihm junge IRA-Männer nach dem Leben trachten, während die alte Garde lieber keine toten britischen Soldaten und darauffolgende Vergeltungsaktionen sehen will. Gemeinsam mit dem unbedarften Gary erkundet das Publikum den Konflikt, wird zunehmend desillusioniert. Die nordirischen Zivilpolizisten der Royal Ulster Constabulary entpuppen sich als hinterhältige Strippenzieher, die britischen Soldaten sind mit der Situation überfordert, die IRA gespalten in junge Hitzköpfe und Elder Statesmen. Auch vor Minderjährigen macht das Erbe des Hasses nicht halt: Katholische Kinder dienen als Späher oder bewerfen die Briten mit Fäkalien, unter einer Truppe nordirischen Terroristen ist ein dauerfluchender Junge, der am liebsten alle Katholiken tot sehen möchte. Der Grund ist geradezu typisch für das Genre: IRA-Terroristen erschossen seinen Vater.
…bis zu Belfast
Kindliche Erfahrungen stehen auch im Mittelpunkt des wesentlich gediegeneren Belfast (2021), in dem Kenneth Brannagh seine eigene Biographie fiktionalisiert. Sein Alter Ego, der neunjährige Buddy (Jude Hill), ist Spross einer protestantischen Familie in der titelgebenden Stadt, als 1969 die «Troubles» beginnen. In Schwarz-weiß-Bildern nimmt Belfast radikal die Sicht seines kindlichen Protagonisten ein, etwa wenn die Kamera in extremer Untersicht zu Buddys Vater (Jamie Dornan) aufschaut, als dieser gewaltbereiten Loyalisten die Unterstützung versagt, oder wenn Vater und Mutter eine nahezu perfekte Tanz- und Gesangsperformance zu den Klängen von «Everlasting Love» aufs Parkett legen.
Im alternativen Ende, das sich auf DVD und Blu-Ray befindet, spielt Brannagh selbst den erwachsenen Buddy, der in seinen Geburtsort zurückkehrt. Wieder dient der Nordirlandkonflikt als Hintergrundkulisse einer Familiengeschichte. Belfast wurde für sieben Oscars nominiert und durfte im Gegensatz zu Im Namen des Vaters einen davon mit nach Hause nehmen – jenen für das beste Originaldrehbuch.
Nils Bothmann
Dieser Beitrag stammt aus dem Filmkalender 2023. Auch der Kalender für 2024 enthält Portraits von Filmschaffenden und spannende Textbeiträge.
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