Leseprobe aus Maria Buovolos Buch Jane Campion und ihre Filme über die Hommages in Portrait de la jeune fille en feu und Une histoire d’amour et de désir
Mit dem Oscar als beste Regisseurin für The Power of the Dog kehrte Jane Campion 2022 nach einer längeren Pause ins Zentrum der medialen und internationalen Aufmerksamkeit zurück. Sie hatte zwar mit der Miniserie Top of the Lake zwischen 2013 und 2017 wieder eine breite Zuschauerschaft erreicht und in das etablierte Seriengenre des Krimi-Thrillers einen erfrischend feministischen Wind gebracht, die Frage aber, ob ihr Kino noch eine Relevanz im aktuellen kulturellen Diskurs habe, blieb weiterhin offen.
Trotz wiederkehrender Hommagen und Mitwirkungen an Festivals und Filmveranstaltungen scheint im akademischen Bereich Jane Campions Werk überwiegend in Dissertationen über feministisches Kino vorzukommen, während beim breiten Publikum The Piano ihr bekanntester Film bleibt.
Ist Campions Kino heute in einer Art Kultstatus eingefroren, nur von einer kleinen Gruppe von Liebhaber:innen geschätzt und verfolgt? Können ihre Filme junge Zuschauer:innen noch bewegen, für Regisseur:innen der Gegenwart von Bedeutung sein?
Es lässt sich mühelos beweisen: Campions Werk übt weiterhin einen enormen Einfluss auf jüngere Generationen von Regisseur:innen aus, noch vor The Power of the Dog hat sich ihr Werk als aktueller und inspirierender denn je erwiesen. Schon verwunderlich, dass ihre ungebrochene ästhetische Strahlkraft von den meisten Beobachter:innen und Filmkritiker:innen kaum beachtet wurde, ganz besonders hinsichtlich eines Films, der 2019 das Internet zum Beben brachte und vor allem zahllose junge Frauen mit hoher Intensität ansprach: In Portrait de la jeune fille en feu – Drehbuch und Regie Céline Sciamma – sind Analogien und Anklänge an The Piano unübersehbar.
PORTRAIT DE LA JEUNE FILLE EN FEU – Einflüsse von THE PIANO
Im vorrevolutionären Frankreich wird die Malerin Marianne (Noèmie Merlant) mit dem Boot auf eine einsame Insel der Bretagne gebracht, mit dem Auftrag, eine geheimnisvolle aristokratische Dame zu porträtieren. Das Meer ist aufgewühlt, sodass eine ihrer Kisten ins Wasser fällt. Es ist gerade die Kiste mit ihren Mal- Leinwänden. Marianne springt unter den erstaunten Augen der Bootsbesatzung mit ihrem schweren Reifrock ins Wasser, um ihre kostbaren Malutensilien zu holen. Anschließend wird sie mit ihrem triefend nassen Kleid und Gepäck an einem leeren Strand abgeladen. Mit ihrem Hab und Gut auf der Schulter steigt sie in Richtung der Villa ihrer Auftraggeberin die Steilküste hinauf.
Aus der Begegnung zwischen der Künstlerin und ihrer Muse (Adèle Haenel) entfacht eine stürmische Leidenschaft, die sie zwar nicht zum Glück führt, aber zu selbstbewussten und stolzen Frauen werden lässt.
In Portrait de la jeune fille en feu geht es um viel mehr als suggestive
Zitate aus The Piano. Im Film erleben wir ein visuell-taktiles Vokabular,
welches das Flüchtige, das Unstete, das Unbegreifbare des Begehrens erfasst
und beide Filme und deren Regisseurinnen unübersehbar in enge Beziehung zueinander setzt.
Vor mehr als drei Jahrzehnten forderte Jane Campion die konventionellen Sehgewohnheiten des Erzählkinos heraus und entfaltete in Bildern von radikaler Sensibilität das sexuelle Erwachen einer viktorianischen Frau. Céline Sciamma gewährt uns Einblicke in das Imaginäre der Protagonistin und lässt eine physische Verbindung zu ihren Emotionen entstehen.
Blicke und Sehnsüchte
«Nehmt euch Zeit, mich anzuschauen», sagt Marianne in der Anfangsszene, während sie vor ihren Schülerinnen Modell steht. Die Blicke der jungen Frauen sind auf sie gerichtet, die Gesichtszüge der Lehrenden nehmen auf dem Zeichenpapier langsam Form an. Auf einmal werden unser Blick und die Blicke der Schülerinnen auf ein Bild gelenkt, das versehentlich aus dem Lager geholt wurde, ein Porträt einer jungen Frau, deren Kleid in Flammen steht. Die Kamera streicht langsam über das Gemälde und schwenkt dann auf Marianne, die es mit ihren Augen sehnsüchtig verschlingt: Sie erinnert sich an ihre erste Begegnung mit «der jungen Frau in Flammen».
In der Rückblende schauen wir auf die Unbekannte durch Mariannes verliebte Augen, aber wir sehen zunächst nicht ihr Gesicht, wir sehen sie von hinten. Die subjektive Kamera verweilt auf der Kapuze ihres Umhangs, während sie mit schwebendem Gewand langsam läuft. Raum und Bewegung scheinen sich zu durchdringen und wir werden mit der Intimität dieses (Zeit-)Gefühls verbunden, mit dem Gewebe des Umhangs, mit dem Rhythmus des Windes, mit der Sehnsucht Mariannes.
Die Szene erinnert an den Anfang von The Piano, als wir auf die Außenwelt durch Adas Finger schauen und die subjektive Artikulation ihrer Innenwelt wahrnehmen. Im Interview hat Céline Sciamma offen den wichtigen Einfluss von The Piano auf ihren Film bestätigt und den Wunsch geäußert, mit ihrem Kino vielleicht dort weiterzumachen, wo Campion aufgehört hat.
Das (Film-)Bild als Ort des Begehrens
In The Piano und etwa 30 Jahre später in Portrait de la jeune fille en feu geht es um das (Film-)Bild als Ort des Begehrens, jenseits geschlechtsspezifischer Sehhierarchien oder konventionalisierter Vorstellungen von Sexualität und Liebe. Sciamma nimmt uns gleich zu Anfang mit Marianne auf den steilen, windgepeitschten Steig zur Villa ihrer Auftraggeberin mit, einen Weg, der so rau und abweisend ist, wie für Ada der neuseeländische, schlammige Wald: Darin kündigt sich bereits die Herausforderung an, der sie sich standhaft stellt. Beiden Regisseurinnen gelingt es, eine Bildsprache zu erfinden, bei der die Kamera hinter der vibrierenden Oberfläche der Haut ein Innenleben offenbart.
In Portrait de la jeune fille en feu kreiert Kamerafrau Claire Mathon Bilder, die von der Barockmalerei inspiriert und trotzdem von einer unentrinnbaren Modernität sind, in denen alle möglichen Texturen ihre eigene Taktilität entfalten: Sie lassen uns die Zartheit von Seide auf rosiger Haut spüren, in das Gewirr der von Wind zerzausten Haare eindringen, das rauschende Flattern eines Umhangs um den Körper nachfühlen. Wir werden allerdings nicht in die Romantik einer lesbischen Liebe eingeführt, sondern in die kreisenden, widerspenstigen und doch anhaltenden Artikulationsformen des Begehrens, die mit unserem subjektiven
Interpretationssystem aufeinandertreffen.
Spuren von Jane Campion in UNE HISTOIRE D’AMOUR ET DE DÉSIR
Die Suche nach Jane Campions Spuren im Kino der Gegenwart führt uns weiter, zu einer jungen französisch-tunesischen Regisseurin, Leyla Buzid und ihrem Film Une histoire d’amour et de désir (2021): Hier stehen im Zentrum das Zittern und die Sehnsucht eines jungen Mannes aus der algerischen Einwanderergemeinschaft, der ein Studium der Literatur an der Pariser Sorbonne beginnt. Er entdeckt an der Uni die Sinnlichkeit der arabischen Poesie und das Verlangen nach der tunesischen Studentin Farah. Die Regisseurin vervielfacht die Nahaufnahmen mit bündigem Licht, das sowohl auf der männlichen als auch auf der weiblichen Haut verweilt.
Leyla Buzid enthüllt sich – wie Jane Campion – als Sensualistin: In einer Szene in der U-Bahn inszeniert sie zusammen mit Sebastien Goepfert, Kameramann in La vie d’Adèle (2013, Regie: Abdellatif Kechiche), den jungen Ahmed als Alter Ego Frannies in Campions In the Cut.
Wie bei Frannie wird Ahmeds Blick auf Verse an der U-Bahn-Wand gelenkt: Die Kamera bewegt sich langsam über die Wölbung von Ahmeds Nacken, fängt seine Regung ein, während er – und wir mit ihm – die Worte des Dichters Henri Michaux lesen, «Faut de Soleil, sache mourir dans la glace» («Muss Sonne sein, weiß, wie man im Eis stirbt»), bevor Farah in der U-Bahn auftaucht und sich Ahmed nähert. Neugierde und Verheißung liegen auf einmal in der Luft, es ist vielleicht der Beginn einer Liebe.
Jane Campion ist also präsenter denn je in dem Kino junger Regisseurinnen, die ihren Kosmos neu interpretieren, umschreiben, mit neuen Facetten ergänzen.
Wie fing bei ihr alles an?
Marisa Buovolo
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