Mit Akira Kurosawas Regiedebüt Judo Saga begann 1943 das Goldene Zeitalter des japanischen Kinos, 1953 legten Kenji Mizoguchi und Yasujiro Ozu ihre eigenen Großwerke nach

Vor genau 80 Jahren, mitten im Kriegsfrühling 1943, kam ein unscheinbarer Film in die japanischen Kinos: Eine Romanverfilmung namens Sanshiro Sugata, über einen rebellischen Jugendlichen, der durch Demut und Selbstdisziplin zum Judo-Meister aufsteigt und sich am Ende den Ruhm und das Mädchen erkämpft. Trotz fünf Remakes und zahlreicher Fortsetzungen wäre der Film, der in den 1970ern als Judo Saga nach Amerika kam und in Deutschland als Judo Saga – Die Legende vom großen Judo veröffentlicht wurde, heute international sicher vergessen – wäre er nicht das Regiedebüt eines gewissen Akira Kurosawa.

Judo Saga © BFI

Der 33-Jährige Kurosawa war beileibe kein Neuling: Über sieben Jahre hatte er bei 17 Filmen des Altmeisters Kajiro Yamamoto alles gelernt, was es beim Filmemachen zu lernen gibt, vom Kulissenbau über die Beleuchtung bis zum Drehbuchschreiben. Und so findet man bei Judo Saga, so simpel der Plot auch gestrickt sein mag, bereits einen voll ausgereiften Filmemacher: das meisterhafte Spiel mit Licht und Schatten, das subtile Sound-Design und die spürbare Faszination mit dem komplexen Bösewicht – all das hebt den Film weit von der zeitgenössischen Propaganda-Ware ab.

‹Am allerschönsten›
Am allerschönsten

Doch trotz dieser frühen Meisterschaft sollte es noch dauern, bis Kurosawa ein neues japanisches Filmzeitalter einläuten konnte. Das japanische Propaganda-Ministerium erlaubte nur patriotische Stoffe, schnitt und stückelte an seinen Filmen herum und zwang ihn sogar eine Fortsetzung seines Debütfilms zu drehen, die als lustlosester Film in Kurosawas Biographie einging. Immerhin gab es private Höhepunkte: Für seinen zweiten Film Am allerschönsten (1945), ein Drama über Fabrikarbeiterinnen, ließ Kurosawa seine Schauspielerinnen tagelang am Fließband schuften, um ihre Rollen zu verinnerlichen. Die so geplagten Aktricen wählten die resolute Yoko Yaguchi als Anführerin, die mit dem sturen Regisseur verhandeln sollte. Und nachdem diese beiden die ganze Drehzeit hindurch verbissen gestritten hatten, heirateten sie kurz danach – eine Ehe, die bis zu Yaguchis Tod 1985 halten sollte.

Der Grundstein einer japanischen Filmkultur

Aber die Umrisse einer neuen japanischen Filmkultur konnten sich erst nach Kriegsende offenbaren – und Kurosawa legte dafür gleich mehrere Grundsteine. Zum einen etablierte er Darsteller, die noch lange die japanische Kinolandschaft prägen sollte: Er besetzte die in Kriegszeiten beliebte Setsuko Hara in seinen ersten Nachkriegsfilmen und holte sie damit aus der ideologischen Versenkung. Zudem entdeckte er das feurige Genie Toshiro Mifune, der das japanische Schauspiel revolutionierte und 16 Filme mit Kurosawa drehte. Und schließlich holte er einen vergessenen Darsteller zurück ins Geschäft, den damals schon 40-jährigen Takashi Shimura, der später die (menschliche) Hauptrolle im legendären Godzilla-Film spielte.

Vor allem aber krempelte Kurosawa den inhaltlichen Ansatz des japanischen Kinos um. Dieses lag nach dem Krieg buchstäblich in Trümmern, diskreditiert von Jahren der Kriegspropaganda und eingeschränkt von den Auflagen der amerikanischen Zensur. In dieser Situation war Kurosawa der richtige Mann am richtigen Ort zur richtigen Zeit: Durch eine weltoffene Familie war er von klein auf mit westlicher Kultur in Berührung gekommen, liebte die Filme von John Ford, Frank Capra und Fritz Lang und verehrte die düsteren Sozialromane von Dostojewski und Gorki. Die seichten, harmonischen Unterhaltungsfilme der Kriegszeit hatten ihn gelangweilt, nun brach er mit provokanten, politischen Stoffen über Armut, Drogen, Unterdrückung und Rebellion jegliches vorherrschende Schema auf.

Gegen die Genretraditionen

Dafür wechselte er nahtlos zwischen jidai-geki (den historisch orientierten Samuraifilmen) und gendai-geki (den Filmen im modernen Setting) und riss die Traditionen beider Genres rabiat nieder: Seine Samuraifilme spielten nicht wie üblich in der opulenten Kaiserzeit, sondern in der Periode der Feudalherren und Bürgerkriege im 16. und 17. Jahrhundert, wo die einst stolze Kriegerkaste zu abgerissenen, herrenlosen Ronin und räuberischen Anti-Helden heruntergekommen war. Und auch sein Blick auf das moderne Japan war nicht von Optimismus und Wohlstand geprägt, sondern von sozialer Spaltung, politischer Verlogenheit und moralischer Ambivalenz. Hier wie dort war Kurosawa fasziniert von idealistischen Figuren, die letztlich vergeblich gegen komplexe soziale, bürokratische und moralische Strukturen kämpfen.

Sieben Samurai

Und dann geschah etwas sehr Ungewöhnliches: Gerade als Kurosawa mit Engel der Verlorenen (1948) und Ein streunender Hund (1949) seine ersten Meisterwerke gedreht hatte und mit Filmen wie Rashomon (1950), Einmal wirklich leben (1952) und natürlich den Sieben Samurai (1954) international für Aufsehen sorgte, liefen zwei fast vergessene japanische Altmeister zu großer Form auf: Yasujiro Ozu und Kenji Mizoguchi legten mit Die Reise nach Tokio und Ugetsu – Erzählungen unter dem Regenmond genau zehn Jahre nach Kurosawas Regiedebüt ihre prägenden Werke ab, die sie auch international berühmt machten. Gemeinsam begründeten die drei ein Goldenes Zeitalter des japanischen Kinos – und zeigten, wie vielfältig die Filmkultur im Land der aufgehenden Sonne ist.

Ein ungleiches Trio

Wenn eine Gruppe genialer Filmemacher eine eigene Stil-Epoche einläutet, sind ihre Mitglieder sich oft sehr ähnlich. Die «Movie Brats» im Hollywood der 1970er um Spielberg, Lucas, Coppola und Schrader waren Arbeiterkinder mit Migrationshintergrund. Die Vertreter des Neuen Deutschen Films um Wenders, Herzog und Kluge gehörten der akademisch geprägten ersten Filmschulgeneration an. Und die Nouvelle-Vague-Regisseure wie Godard, Chabrol, Truffaut und Rivette kannten sich lange vorher als Filmjournalisten bei den «Cahiers du Cinema».

Aber was hatten Kurosawa, Ozu und Mizoguchi gemeinsam? Nichts – außer dass Spielberg, Lucas, Coppola und Herzog besessen waren von Kurosawa; Wenders und Schrader lebenslange Ozu-Fans wurden; und Godard und Rivette Mizoguchi verehrten.

‹Die Reise nach Tokio›
Die Reise nach Tokio © Criterion

Ozu unterschied sich vom radikalen Wunderkind Kurosawa vor allem im Temperament. Er hatte die Stürme der Jugend schon hinter sich: Als Kind einer wohlhabenden Händlerfamilie hatte Ozu in einer ausschweifenden Jugend voller Alkohol, Schlägereien und Skandale eine vielversprechende Bildungskarriere gegen die Wand gefahren. Aber als Filmemacher drehte er nachdenkliche Komödien über die Generationenkonflikte im Japan der 1930er gemacht – und nach dem Krieg dann nachdenklichen Dramen über die Generationenkonflikte der 1940er und 1950er.

Ozu wird oft als ‹japanischster› aller Filmemacher beschrieben, der Themen wie Familie, Tradition und Moderne behandelt; dessen ‹Tatami›-Einstellungen die Kamera auf Augenhöhe eines auf einer Bodenmatte sitzenden Gastes positionierte; und der vor allem keine Verwendung für übertriebene Aufregung oder Theatralik hatte. Ozus Kamera bewegt sich nie, seine Figuren erheben nie die Stimme, es gibt nur einen einzigen Kuss in seinen über 50 Filmen. Und doch gehören sie zu den bewegendsten Filmen der Geschichte. Niemand erzählt das Vergehen der Zeit, die langsamen Veränderungen von Beziehungen, die schleichenden Enttäuschungen und Überraschungen des Familienlebens so meisterlich wie Ozu. Wer braucht Schießereien, Verfolgungsjagden und wilde Wendungen, wenn eine einzelne Träne am Ende von Die Reise nach Tokio oder ein geschälter Apfel am Ende von Später Frühling (1949) das Ende einer Familie oder das Ende eines ganzen Lebens zeigen kann?

Ein streunender Hund © BFI

Zwischen dem immer dynamischen Kurosawa und dem immer ruhenden Ozu fand Kenji Mizoguchi einen dritten Weg. Er wurde noch im ausgehenden 19. Jahrhundert in eine bettelarme Familie geboren, seine Schwester wurde aus Geldnot an eine Geisha-Schule verkauft – und unterstützte ihren kleinen Bruder trotzdem, als die Eltern früh starben. Kein Wunder also, dass Mizoguchi stets das Leiden der marginalisierten japanischen Frauen thematisierte, seien es Witwen, Prostituierte, Geishas oder Bäuerinnen. Er bediente sich bei Volksmärchen, Geistergeschichten und historischer Folklore, stellte aber immer wieder das tragische Schicksal einer weiblichen Figur in den Vordergrund – und spiegelte so sehr moderne soziale Themen der japanischen Nachkriegszeit.

Zeiten des Umbruchs

Drei Filmemacher also, wie sie unterschiedlicher nicht sein konnten: Kurosawa, der Abenteurer, der epische Schlachten, bittere soziale Konflikte und große Gefühle erzählte; Ozu, der Traditionalist und Zen-Meister, der leise Alltagsgeschichten zu tief bewegenden Dramen destillierte; und Mizoguchi, der sozialbewusste Symbolist, dessen Historienfilme der modernen Gesellschaft den Spiegel vorhalten. Nicht nur unter den internationalen Star-Regisseuren bleibt es ein beliebter Persönlichkeitstest, welchen dieser drei Meister man bevorzugt.

Und doch gab es Gemeinsamkeiten: Mizoguchi war genau wie Kurosawa von westlicher Malerei und russischer Literatur geprägt, während Ozu mit Kurosawa die Liebe zu den Hollywood-Filmen des Golden Age teilte. Ozu drehte mit Setsuko Hara sechs seiner besten Filme, nachdem Kurosawa sie wiederentdeckt hatte. Und Takashi Shimura, mit dem Kurosawa 21 Filme dreht, konnte er nur wiederentdecken, weil er ihn in einem Vorkriegs-Film von Mizoguchi gesehen hatte.

‹Ugetsu›
Ugetsu © Criterion

Vor allem aber interessierten sich alle drei für die Zeiten des Umbruchs – vielleicht kein Wunder im besiegten Japan in den Jahren nach der Atombombe. Ihre Samuraifilme zeigen eine gesetzlose, chaotische Welt anstatt der sonst üblichen Schwertkämpfer-Romantik. Und das moderne Japan beschreiben alle drei als zerrissenes Land ohne Orientierung. Die soziale Ordnung ist brüchig bis explosiv, die Familien zerfasern zwischen den eisernen Klammern der Tradition und den hohlen Verlockungen der Moderne, die einzelnen Filmfiguren irren umher auf der vergeblichen Suche nach Wahrheit, Sicherheit oder moralischer Erlösung.

Das Goldene Zeitalter hielt nicht lange an: Mizoguchi starb bereits 1956, Ozu folgte 1963, während Kurosawa ab den 1960ern zunehmend Schwierigkeiten hatte, seine aufwendigen Projekte zu finanzieren und bald auf die Hilfe seiner prominenten amerikanischen Fans angewiesen war. Und wie immer nach einem Goldenen Zeitalter rückte in den 1960ern eine Generation rabiater Tabubrecher nach, von Hiroshi Teshigahara über Kinji Fukasaku bis zum unvergleichlichen Nagisa Oshima. Sie revolutionierten das japanische Kino ein weiteres Mal, aber sie bauten auf den Fundamenten dreier Meister des Weltkinos – und auch sie entkamen nicht der Frage aller Fragen: Kurosawa, Ozu oder Mizoguchi?

Daniel Bickermann

Dieser Beitrag stammt aus dem Filmkalender 2023. Auch der Kalender für 2024 enthält Portraits von Filmschaffenden und spannende Textbeiträge.