Packendes Drama um Demenz und Identitätsverlust, das konsequent aus Sicht eines 80-jährigen Mannes erzählt ist, dessen Verwirrung sich unmittelbar überträgt
Wo denn seine Armbanduhr bloß wieder sei? Er sei sich sicher, sie auf dem Nachttisch abgelegt zu haben. Aber wahrscheinlich habe die Pflegekraft, die täglich kommt, sie gestohlen. Man müsse sie gleich entlassen.
Diese Szene wird sich mehrmals wiederholen. Sie ist ein emblematisches Beispiel dafür, wie alltägliche Dinge für ältere Menschen eine immer größere Macht bekommen. Sie sind mit Bedeutung aufgeladen; wenn sie verschwinden, gerät die Welt aus den Fugen.
Das kann doch nicht wahr sein
Anthony, der «Father» des Filmtitels, ist ein 80-jähriger Mann aus London, der an Altersdemenz leidet. Als man ihn zum ersten Mal sieht, hört er sich in seiner großzügigen, geschmackvoll eingerichteten Wohnung eine Oper an. Es ist ein angenehmer Nachmittag, nichts deutet auf eine Störung hin. Anthony genießt sichtlich die Musik. Doch plötzlich kommt seine Tochter Anne (Olivia Colman) zu Besuch und eröffnet ihm, dass sie einen Mann kennen gelernt habe und mit ihm nach Paris ziehe. Anthony ist verwirrt: seine Tochter und Männer – das kann doch
nicht wahr sein. Aber wer ist dann dieser Fremde in seinem Wohnzimmer, der vorgibt, seit über zehn Jahren mit Anne verheiratet zu sein?
Mit einem Mal dämmert es einem, dass man sich vielleicht gar nicht in Anthonys Wohnung befindet, sondern in der von Anne. Augenscheinlich hat sie ihren Vater zu sich genommen, zum Unwillen ihres Mannes Paul (Rufus Sewell), der sich durch den hilfsbedürftigen Mann mehr als gestört fühlt. Aber ist Anne, zwischendurch dargestellt von Olivia Williams, nicht eine andere Frau? Anthony ist verwirrt. Angestrengt versucht er zu begreifen, was um ihn herum vorgeht. Die Ankunft von Laura, der neuen Krankenschwester, hellt sein Gemüt auf. Sie ist eine junge hübsche Frau, mit der er charmant und heftig flirtet. Allerdings hat er bislang noch jede Pflegekraft vergrault.
Als wäre es die eigene Verwirrung
Der französische Schriftsteller und Dramatiker Florian Zeller adaptiert in seinem Filmdebüt sein eigenes gleichnamiges Theaterstück, das 2012 in Paris uraufgeführt und vielfach ausgezeichnet wurde. Auch auf deutschen Theaterbühnen wurde es erfolgreich gespielt. Zeller, als Co-Autor 2021 mit dem «Oscar» für das Beste Drehbuch ausgezeichnet, macht etwas sehr Bestechendes: Er erzählt die Geschichte konsequent aus der Sicht des kranken Mannes. Man erlebt seine Verwirrung so, als wäre sie die eigene. Das führt zwangsläufig dazu, dass man sich als Zuschauer nicht sicher sein kann, was wirklich geschieht. Orte können woanders sein, Charaktere können ihre Identität (und damit den Schauspieler oder die Schauspielerin) wechseln, Täuschungen und Verschiebungen könnten eine Falle sein.
Diese Momente sind für Anthony stets bedeutsam und real, und darum sind sie es auch für den Zuschauer. Die Nebenfiguren, deren eigene Betroffenheit in anderen Dramen um Demenzkranke häufig im Fokus steht, geben keine Orientierung. Einmal zieht Zeller komplett den Boden unter den Füßen weg. Anthonys fröhliche Begeisterung über Laura schlägt plötzlich in Hasstiraden und Gemeinheiten um. Die ständigen Wechsel seiner Stimmungen und Wahrnehmungen verlangen seiner Umwelt viel Geduld ab.
Man kann die Leistung von Anthony Hopkins, immerhin schon 83 Jahre alt, darum nicht genug bewundern, zumal er den «Oscar» als Bester Darsteller erhielt. Zwischen lebensfreudig und beleidigend, charismatisch und wütend, charmant und traurig zieht er alle Register. Wenn er Imogen Poots mit einem fröhlichen «Zeit für einen Aperitif!» umgarnt und später zu tanzen beginnt, muss man unwillkürlich lachen. Olivia Colman hingegen ist gezwungen, zum einen das Spiel ihres Vaters mitzuspielen, zum anderen aber auch ihren Alltag zu meistern. Ein ums andere Mal wischt sie sich heimlich eine Träne aus dem Auge, wenn ihr Vater sie beleidigt und abkanzelt, um dann wieder geduldig Haltung anzunehmen.
Wollte sie wirklich nach Paris ziehen?
Große Bedeutung kommt – neben dem Produktionsdesign, das kleinste Abweichungen in Anthonys Wahrnehmung sofort sichtbar macht – dem Schnitt von Yorgos Lamprinos zu. The Father erzählt eine komplexe und verwirrende Geschichte, in der die Perspektivwechsel nur von einer Figur ausgehen und einige Fragen nicht beantwortet werden. So weiß man bis zum Schluss nicht, ob Anne wirklich die Absicht hatte, nach Paris zu gehen. Doch Lamprinos behält die Übersicht und führt durch einen Film, in dem auf nichts Verlass ist. Selten wurden die Folgen von Altersdemenz im Kino so drastisch spürbar gemacht.
Michael Ranze
Diese Filmbesprechung stammt aus dem FILMJAHR 2021/2022 – Lexikon des Internationalen Films.
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