Ein Auszug aus Band 86 der Zeitschrift AugenBlick: Ein Gespräch mit Thomas Arslan

Das Gespräch mit Thomas Arslan (TA) haben Özkan Ezli (ÖE) und Bernd Stiegler (BS) am 29. und 30. Juli 2022 in Berlin geführt.

BS: Wir würden gerne mit dir zu Beginn über den Stadt- und Naturraum sprechen, weil beide Räume oder Raumordnungen in deinen Filmen eine große Rolle spielen. In allen deinen Filmen geht es auch um das Durchqueren und Kartieren von Räumen. Bei Mach die Musik leiser ist es Essen; das ist schon etwas länger her. Bei der Berlin-Trilogie erst die Gegend um das Kottbusser Tor, dann bei Der schöne Tag andere Teile von Berlin zwischen Tiergarten, Mitte und Kreuzberg. Auch Im Schatten ist ein Berlin-Film und beginnt mitten in der Stadt in der Nähe der Friedrichstraße und mit der U-Bahn-Station Stadtmitte. Am Ende sind es die Randgebiete und zwischendrin allerlei Transiträume. Meine Frage wäre nun: Ist Berlin ein heimlicher Protagonist deiner Filme?

Florian, Frank und Andy warten auf Freunde (Mach die Musik leiser, 1993/94)
Florian, Frank und Andy warten auf Freunde (Mach die Musik leiser, 1993/94)

TA: Es gibt die Filme, die in Berlin spielen und dann gibt es die Filme, die woanders spielen. Die Orte sind nicht aus einer abstrakten Idee entstanden, das Portrait einer Stadt zu machen, sondern das ist primär mit der Lebenswirklichkeit der Figuren verbunden. Es spielt für mich eine große Rolle, wo sie genau wohnen. Daher ist es nicht beliebig, wo sie sich entlangbewegen und welche Wege sie von A nach B zurücklegen. Das ist für mich wichtig, weil es eben zu ihrer Lebenswirklichkeit dazugehört.

Insofern sind die Städte und Orte keine heimlichen Protagonisten, sondern einfach mit den Figuren verbunden, mit ihrem Alltag – und das hat in dem Film dann seinen Raum. Ich finde es auch beim Anschauen von anderen Filmen interessant, wenn es eben nicht so abstrakte Behauptungen sind, sondern man auch tatsächlich etwas von den Orten und den Wegen sieht, die die Personen in ihrem Alltag zurücklegen müssen. Das ist ein integraler Bestandteil der Geschichten und dann natürlich auch der Filme.

Trojan unterwegs in Berlin (Im Schatten, 2010)
Trojan unterwegs in Berlin (Im Schatten, 2010)

ÖE: Heute Morgen bin ich in unserem Hotel in der Nähe vom Checkpoint Charly aufgestanden, bei gekipptem Fenster. Obwohl mein Zimmer auf Seiten eines ruhigen großen Innenhofs lag, hörte ich ein Grundrauschen der Stadt und habe mir dann gedacht: Dieses Grundrauschen in deinen Filmen, dieses Verkehrsrauschen, das du in deinen Berlin-Filmen ganz prominent einsetzt, hättest du jedes Mal beim Mischen des Tons aufgesetzt. Aber es ist ja wirklich der Sound von Berlin. Die Figuren wachen darin auf, sie laufen darin; das ist letztlich, worin alles stattfindet.

TA: Ja genau. Es ist natürlich etwas völlig anderes, wenn man in der kanadischen Natur unterwegs ist, oder bei Helle Nächte im nördlichen Teil von Norwegen, oder in Ferien, einem Film, der auf dem Land spielt. Das sind ganz andere Szenarien und Umgebungen, die dann auf ihre Art auch eine konkrete Rolle spielen; aber es klingt anders und sieht anders aus.

BS: Noch einmal zurück nach Berlin. Auf der einen Seite gibt es etwas, was man als topografischen Realismus bezeichnen könnte, also präzise identifizierbare Orte. Auf der anderen Seite sind es doch eher Transiträume, also Räume – Marc Augé hat es auf die Formel eines «non-lieu», also eines «Nicht-Orts» gebracht –, bei denen man seine Identität am Eingang abgibt und sie dann nicht zuletzt deshalb durchläuft, um dort seine Identität zu verlieren. Spielt diese Dichotomie oder diese Dialektik zwischen Nicht-Räumen und präzise definierbaren Räumen wie dem Kottbusser Tor für dich eine große Rolle?

TA: Das ist unterschiedlich, würde ich sagen. Bei Geschwister und Mach die Musik leiser zum Beispiel oder bei Dealer und Der schöne Tag ist ja dieses Durchqueren der Räume etwas anderes als etwa bei Im Schatten. Wenn Jugendliche sich durch die Stadt bewegen, ist das ein anderes Umherschweifen als bei Im Schatten, wo die Hauptfigur ein professioneller Krimineller ist, der natürlich gezielt solche Orte aufsucht, etwa Hotels, die nicht auffallen. Er führt überhaupt ein Leben, wo er möglichst nicht auffällt, um seiner Arbeit nachgehen zu können. Das ist bei Jugendlichen natürlich anders. Sie besetzen den Stadtraum mit völlig anderen Intentionen. Das ist ein wichtiger Unterschied.

Anne, Claudia und Florian an einem anderen Treffpunkt (Mach die Musik leiser, 1993/94)
Anne, Claudia und Florian an einem anderen Treffpunkt (Mach die Musik leiser, 1993/94)

BS: Transiträume finden sich aber z. B. auch bei Mach die Musik leiser, oder nicht? Jedenfalls auf eine eigentümliche Art und Weise. Auch dort sind die Jugendlichen eher in Transiträumen unterwegs.

TA: Ja, sie sind natürlich besonders für Jugendliche interessant, aber es ist anders konnotiert als bei Im Schatten. Jugendliche haben ja in der Regel kein Geld und können daher seltener an Orte gehen, wo man Eintritt bezahlen muss, selbst in Bars; das kostet alles Geld. Deshalb ist es naheliegend, dass man sich, wenn man kein Geld hat, an Orten aufhält, wo man sich treffen kann, ohne etwas ausgeben zu müssen: in Parks etc. Sie suchen sich zudem auch Orte, die nicht bereits von Erwachsenen besetzt sind. Mitunter sind diese vollkommen bizarr: Sie treffen sich etwa auf Verkehrsinseln.

Es sind Orte, wo sich sonst niemand lauschig hinsetzen würde. Aber das ist natürlich auch eine Abgrenzung von ordentlichen Zusammenhängen. Jugendliche besetzen den Stadtraum eben anders als die ältere Generation. Das machen sie fast automatisch.

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