Thomas Koebner widmet sich in seinem neuesten Buch der filmischen Darstellung von Erinnerungen
Erinnerungen tauchen manchmal auf wie Inseln im Meer des Vergessens. Oder um eine andere Metapher zu verwenden: Wie zuvor geschlossene Türen öffnen sie sich unvermutet und geben den Blick in die Zeit frei, die einmal war. Meist ist von der Erinnerung einer Person die Rede – auch im Film herrscht diese ‹Eindimensionalität› vor, wahrscheinlich, weil es leichter ist, sich auf die Perspektive einer Person zu konzentrieren. Aber der Film durchbricht die Innensicht, selbst wenn er manchmal absichtsvoll den Gesichtskreis einschränkt, weil er notgedrungen immer auch eine objektive Umwelt abbildet. Die Kamera sieht generell mehr als der subjektive Blick einer Figur.
Was ist wirklich geschehen?
Auf die Frage, wie man im Film Erinnerungen zeigen sollte, lautet die prompte Antwort für gewöhnlich: durch Rückblenden. Nach einem Schnitt oder einigen Bildern von absichtlicher Unschärfe versetzt man das Publikum in eine frühere Zeit. Doch mit dieser eigentlich lakonischen temporalen Verschiebung der Handlung eröffnet sich ein Problem: Markiert man die Gelenkstellen zwischen Gegenwarts- und Vergangenheitserzählung – oder verwischt man die Übergänge, sodass Zuschauer für einen Moment unsicher sind, in welcher Zeit sich die Ereignisse vor ihren Augen abspielen? Wählt man für die Erinnerung einen anderen, abweichenden, verfremdenden Darstellungsmodus – oder verzichtet man auf solche äußerlichen Indizien, vielleicht sogar, um Parallelen zwischen Gestern und Heute hervorzuheben? Betont man, durch welche Mittel auch immer, das Subjektive der Erinnerung einer Person – oder hält man die Fiktion aufrecht, dass auch in der Rückblende der Anschein objektiver Wirklichkeit gewahrt bleiben soll?
Die scheinbar zuverlässige Rekonstruktion des Vergangenen – bei simplen Kriminalproduktionen wird in ‹Geständnis-Szenen› der bis dahin verheimlichte Tathergang so ‹nachgereicht› und enträtselt – gilt immer noch als realitätskonformes Gedankenspiel, als sei nicht jeder Bericht eines Täters oder Augenzeugen durch spezifische Blickwinkel beeinträchtigt. Die perspektivische Verzerrung prägt jeden Ausschnitt, jedes Bild einer Wirklichkeit, gleich, ob sie als gegenwärtig oder als zurückliegend gelten sollen. Nur fällt diese perspektivische Verzerrung als erzählerische Unzuverlässigkeit selten bei der Wiedergabe eines Geschehens auf, das sich angeblich gleichzeitig (zum Akt des Zuschauens) abspielt. Als wäre es ein naives Bedürfnis des Publikums, schon bei den ersten Einstellungen beteuert zu bekommen: ‹So ist es. Ihr werdet nicht belogen oder in die Irre geführt.› Gleich einsetzende Zweifel an den Voraussetzungen des Spiels würden das Spiel verderben.
Unvermittelt etablierte Raumzeiten: der Weg über die Großstadt-Straße, der Ritt durch das Westerndorf, das Taumeln durch die Raumkapsel, sie alle setzen einen Handlungsrahmen fest, der – obwohl mehr oder weniger als Fiktion durchschaubar – als stabile ‹Kulisse› für genrebedingt besondere Konflikte und Motive gelten darf. Die Gutgläubigkeit des Publikums, eine Art Denk-Trägheit, ist so beharrlich, dass Zuschauer dazu neigen, alles für bare Münze zu nehmen, selbst das, was sich nach Aussage derer, die in die ‹Vorzeit› zurückkehren, einst zugetragen haben soll. Doch Erinnerungen sind Tiefenschürfungen in einem instabilen Gedächtnis.
STRANGE DAYS (USA 1995)
In Strange Days, einem visuell fast avantgardistischen Zukunftsthriller von Kathryn Bigelow, sorgt eine Kappe auf dem Kopf für lückenlose Aufzeichnung der Erlebnisse einer Person. Die nur durch die Blickrichtung dieses Empfängers definierten Bilder werden gespeichert in einer kleinen Kassette, die von anderen abgespielt werden kann, die sich so in einen vergangenen Erlebnisraum der ersten Person versetzen. Extrem leichte Kameras, meist am Kopf des Operateurs befestigt, übertragen etwa die Erregung durch eine Verfolgung ins zitternde Bild. Jähe Kopfbewegungen werden in Reißschwenks sichtbar und in absichtlich verrutschten Einstellungen.
Diese technische Rekonstruktion einer angeblich authentischen Sicht lässt unter anderem außer Acht, dass die natürliche Wahrnehmung ständig unterbrochen wird durch die Momente, in denen der Mensch die Augen schließt und die Kontinuität des ‹visuellen Flusses› unterbricht. Streng genommen handelt es sich bei den ‹Replay Clips› in Strange Days um Film im Film, um reproduzierbare Sequenzen subjektiver Eindrücke (eines Überfalls, einer Liebesszene, insbesondere von Gewaltorgien), ohne die Willkür oder Zufälligkeit der ununterbrochen aneinander geketteten Einstellungen in Frage zu stellen, ohne zuzugestehen, dass jede Perspektive auch ein (verborgenes) Werturteil über das im Ausschnitt Sichtbare enthält. Der Realitätscharakter dieser ‹atemlosen› Einschübe unterscheidet sich nicht von dem der umgebenden Haupthandlung.
Erinnerungen werden in avancierter Ästhetik sonst vornehmlich durch Fragmentierung der Handlung, verschobene Anschlüsse, offene Stellen, Sprünge des Fokus gekennzeichnet. Aber auch die scheinbar gleitende Binnenerzählung einer Person kann ihre subjektive Verzerrtheit verraten, ihre fragwürdige Darstellung der Begebenheiten, durch Konfrontation mit konkurrierenden Versionen derselben Ereignisse. Solche Relativierung der angeblich automatischen Gehirn-Aufzeichnungen durch den Vergleich mit einer von zweiten oder dritten Personen behaupteten ‹Wirklichkeit› ist in Strange Days nicht vorgesehen.
Thomas Koebner
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