Claudia Siefen-Leitich analysiert in ihrem neuesten Buch Alice in Illness das Bild der kranken Frau im Film. Wie es dazu kam, erzählt sie hier
Ich habe ein Notizbuch. Die letzten fünf Jahre fanden dort nach jedem meiner Kinobesuche Bewegungen, Szenen, Schnitte, Kameraschwenks, Schauspielkniffe und auch Geräusche ihren Eintrag. In diesem Buch finden sich im Laufe der Zeiten Unterordnungen, unter anderem etwa »das Anheben einer Schürze«. Daraus konnte ich 2012 meinen Experimentalfilm Hab’ so lang auf dich gewartet machen. Das Anheben der Schürze versprach Spannung, Irritation und eine Vielfalt an Gründen, warum und vor allem wie eine Schürze von der jeweiligen Schauspielerin angehoben wurde. Was geschah davor? Was geschah danach?
Die Schauspielkunst, wenn es um die Darstellung von Krankheit ging, rückte für mich die Stärke der jeweiligen Figur im Film in den Mittelpunkt. Ein Film ist ein Film, am Set geht es oft rasant zu, was genau wird gedreht, um die Figur im Zustand des Unwohlseins zu zeigen? Meine Jahre im Schneideraum für Dokumentarfilme, Werbefilme und auch TV-Serien wollten den Bildschnitt nicht Außer-Acht lassen. Gesammelt habe ich weiterhin solche Szenen.
Eines Tages stieß ich (wie viele Jahre mag das her sein?) auf den Briefwechsel der Brüder James, Henry und William. Der erfolgreiche Romanautor und der nicht minder erfolgreiche Soziologe unterhielten sich über Publikationsschwierigkeiten, das Schreiben und auch die Hilflosigkeit, welche manchmal mit all dem einher geht. Und sie unterhielten sich über ihre jüngere Schwester Alice, welch man zur Publikation ihrer Schriften überreden müsse, da sie das eigentlich schreibende Genie der Familie sei.
Alice. Alice wollte nicht. Alice zog sich nach Venedig zurück, auch um zu schreiben. Und vor allem, um ihre Texte in der Schublade verschwinden zu lassen. Sie war krank du fühlte sich dem Druck nicht gewachsen. Ihre Brüder litten genug, so schreibt sie. Sie selbst wollte nicht noch mehr leiden.
Der Name Alice bringt einen in diesem Gewebe schnell zu Alice im Wunderland, der weibliche Körper ist mal zu groß, mal zu klein. Alice als Prototyp? Und wer und wie definiert eigentlich den Begriff der Krankheit? Es gibt für mich klare Definitionen von Krankheit, welche nicht anzuzweifeln sind, Krebskrankheiten und psychische Erkrankungen zum Beispiel. Aber ich sah auch Spielraum und begann nicht nur Filmszenen zu sammeln, zu notieren und zu analysieren, sondern sammelte auch Bücher. Die Soziologie, die Kunstgeschichte, die Medizin und auch die Architektur waren mir hilfreich: ich war wohl nicht allein mit meiner szenischen Suche. Warburg, Bronfen, Foucault, Mann, Bourdieu, Panofsky, Canguilhem. Mit jeder Filmszene, mit jedem Buch wurde mein Gewebe dichter.
Die dramaturgische Stärke der betreffenden Frauen wollte ich weiterhin betonen und in den Vordergrund stellen, und ein Skizzenbuch zu einem Dokumentarfilm entstand. Das hier vorliegende Buch vereint von mir gesammelte Filmstills und meinen großen Essay. Die Reise von Alice geht weiter …
Claudia Siefen-Leitich
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