Der italienische Regisseur Pier Paolo Pasolini wäre heute 100 Jahre alt geworden. Zu diesem Anlass bringen wir hier einen Auszug aus Irmbert Schenks Geschichte des italienischen Films

Pier Paolo Pasolini (1922–1975) kommt in den 1950er-Jahren mit dem Kino eher nebenbei aus Geldnot durch Drehbuchmitarbeiten bei Trenker, Soldati, Fellini und Bolognini in Berührung. Bekannt wird er in dieser Zeit als Schriftsteller (Lyriker und Romancier) und Herausgeber von Anthologien und Zeitschriften. Die Romane Ragazzi di vita und Una vita violenta erscheinen 1955 und 1959; sie bilden dann auch die Vorlage für seine ersten Filme. Vor allem Ragazzi di vita wird wegen Obszönität angeklagt (es geht in einer neuen, gleichzeitig radikal realistischen und zunehmend stilisierten Sprache u. a. um männliche Prostitution bei jugendlichen Subproletariern in den römischen Vorstädten in der Nachkriegszeit, wie Pasolini auch immer wieder wegen der eigenen Homosexualität Probleme hat). Aber auch die KPI kritisiert die Werke wegen ihrer mangelhaften Klassenorientierung, so wie Pasolini, der sich selbst als Kommunist sieht, die KPI wegen ihrer Verbürgerlichung und später die Studentenbewegung als angepasste Kinder der Bourgeoisie, «Vatersöhnchen», kritisiert.

Pier Paolo Pasolini

Pasolini steht (auch wegen seiner Filme) nicht nur mehrfach vor Gericht, sondern auch insgesamt im Zentrum vieler kulturpolitischer und ideologischer Debatten. Seine Kritik an Kapitalismus und Konsumismus und die Anklage eines neuen kleinbürgerlichen Faschismus der italienischen Gesellschaft geht von einem Idealbild einer authentischen Volkskultur aus, das er immer stärker mythisiert und enthistorisiert. Die Verfahren gegen ihn gründen zumeist in Vorwürfen der Pornografie oder Obszönität, aber auch der Verunglimpfung der Religion oder staatlicher Instanzen. Nicht wenige der Erstaufführungen seiner Filme werden von neofaschistischen Banden gestört.

Accattone (1961)

Pasolinis erster Film, Accattone / Accattone – Wer nie sein Brot mit Tränen ass (1961), gründet inhaltlich auf den beiden Romanen. Er wird mit wenig Erfahrung des Regisseurs und des Regieassistenten (des 20-jährige Bernardo Bertolucci) und bescheidenen finanziellen und technischen Mitteln vorwiegend mit Laien aus dem behandelten Milieu in römischen Vorstädten gedreht. Vittorio Cataldi, genannt Accattone, verlässt Frau und Kind und schlägt sich am Rande Roms als Zuhälter und Kleinkrimineller durchs Leben. Ausgehalten wird er von der Prostituierten Maddalena, deren Zuhälter ihrer Aussage wegen im Gefängnis sitzt. Als sie von dessen Freunden zusammengeschlagen wird, beschuldigt sie Freunde Accattones, woraufhin sie eingesperrt wird. Accattone will mangels Einkünften zu seiner Frau zurück, wird aber von deren Familie verjagt. Er lernt eine junge Frau kennen, die er zur Prostitution überreden will. Als er sich jedoch in sie verliebt, nimmt er eine ehrliche Arbeit an, hält aber nicht lange durch. Nach einem Raub wird er von der Polizei verfolgt und stürzt mit einem gestohlenen Motorrad zu Tode. Die Handlungsgeschichte des Films mit seiner ebenso zynischen wie brutalen, aber letztendlich auch liebenswerten Hauptfigur argumentiert ganz im neorealistischen Sinne eine Anklage gegen die Lebensverhältnisse dieses abgeschriebenen römischen Subproletariats. Zugleich zeigt der Film aber auch schon den Weg des späteren Pasolini vor, in dem die stilistische Überhöhung der Bildkomposition und der (Dialekt- bzw. Argot-) Sprache oder die musikalische Untermalung mit Bach auf eine zusätzliche, ahistorische Bedeutungsebene im Sinne einer (tragischen) Existenzparabel verweisen. Der Film erfährt neofaschistische Behinderung bei der römischen Erstaufführung, wird für einige Zeit von der Zensur verboten und erlangt erst nach der Auszeichnung beim Festival in Karlsbad 1962 Anerkennung durch Kritik und Publikum in Italien.

Mamma Roma (1962)

Pasolinis nächster Film, Mamma Roma (1962) spielt in einem ähnlichem Milieu wie Accattone, geht allerdings nicht auf einen Roman, sondern auf ein wirkliches Ereignis zurück, den Tod eines jungen Gefangenen im römischen Gefängnis. Da ihr Zuhälter sich aus dem Geschäft zurückzieht, kann die ältere Prostituierte Mamma Roma (Anna Magnani) das Gewerbe aufgeben. Sie holt mit dem gesparten Geld ihren auf dem Land aufgewachsenen 16-jährigen Sohn nach Rom, kauft eine Wohnung und beginnt einen kleinen ambulanten Gemüsehandel – um dem Sohn, für den sie alles tut, ein anständiges (klein-)bürgerliches Leben zu ermöglichen. Er indes freundet sich mit einer Jungenbande an, die kleine Diebstähle begeht, und nimmt eine Beziehung mit Bruna, einer Frau aus dem Viertel auf, die bereits ein Kind hat. Sie verbietet ihm den Umgang und zwingt ihn zu einem Kellnerjob. Doch dann taucht der Zuhälter wieder auf und zwingt sie zur Prostitution – andernfalls würde er ihrem Sohn von ihrer früheren Tätigkeit erzählen. Der erfährt es aber von Bruna, woraufhin er sich wieder der Bande anschließt, die Patienten im Krankenhaus bestiehlt. Von der Polizei erwischt, wird er ins Gefängnis eingeliefert, wo er festgeschnallt auf einem Bett im Delirium nach seiner Mutter ruft und stirbt.

Anna Magnani in MAMMA ROMA (1962)

Sie will sich dann zu Hause aus dem Fenster stürzen, wird aber von Nachbarn abgehalten. Der Film ist konzentriert auf die Darstellung Anna Magnanis (die anderen Darsteller sind wieder Laien bzw. aus Accattone bekannt). Sie spielt naturalistisch eine starke Frau, die ihren Sohn über alles liebt und alles unternimmt, um ihr Ziel des sozialen Aufstiegs aus dem Subproletariat ins respektierte Kleinbürgertum zu erreichen. In ihrem tragischen Scheitern ist erneut die Sozialkritik und der moralische Impetus des Films enthalten. Doch hat auch er eine zweite Bedeutungsebene, die dieses Mutterbild wie ihr Scheitern durch Bild- und Tonstilisierungen symbolhaft verselbstständigt.

La ricotta (1963)

La ricotta / Der Weichkäse ist der dritte Teil des Episodenfilms Ro.Go.Pa.G. (1963) mit Beiträgen von Rossellini, Godard, Pasolini und Gregoretti. Pasolini kontrastiert darin in einer grotesken Satire die Dreharbeiten der Kreuzigungsszene in einem historischen Bibelfilm und das Gehabe von Regisseur Orson Welles und Co. mit dem Hunger eines armen Komparsen, der nie Zeit zum Essen findet und – als er endlich Gelegenheit dazu hat – den ganzen Weichkäse auf einmal verschlingt. Er muss dann lange aufs Kreuz genagelt ausharren und stirbt schließlich an dem zu hastig und zu viel Gegessenen. Der Film spitzt die Kontraste zwischen arm und reich, Wirklichkeit und Fiktion, Leben und Tod in einer satirischen Groteske zu, ohne Zweifel an der Moral der Geschichte aufkommen zu lassen. Mit der Ausrichtung der Inszenierung der Passion Christi an italienischen Altarbildern des 16. Jahrhunderts wird auch hier wieder eine zweite Ebene eingezogen, die auf die Fundamente der christlichen Mythologie zielt. Der Film wird von staatlicher Seite zensiert (nicht jedoch von der Kirche), Pasolini selbst angeklagt und zu vier Monaten auf Bewährung verurteilt (die dann unter eine Amnestie fallen).

Teorema (1968)

Eine direktere, wenngleich sehr abstrakt formulierte Kritik an der Gegenwartsgesellschaft finden wir in Teorema / Teorema – Geometrie der Liebe (1968), wo ein Fremder bei einer reichen Mailänder Industriellenfamilie auftaucht und dann mit allen Familienmitgliedern sexuelle Beziehungen hat. Als er wieder verschwindet, haben alle ihre vermeintlich stabile Identität verloren und versinken im Chaos zwischen Irrenhaus, Heiligenschein und Nymphomanie. Der Vater zum Beispiel will die Fabrik an die Arbeiter verschenken, entkleidet sich am Mailänder Bahnhof und geht in die Wüste. Der in seinem ‹Theorem› metaphorische Film zielt provokativ auf die Aufdeckung der fundamentalen psychischen und moralischen Leere der bürgerlichen Gesellschaft und die Zerstörung der gutbürgerlichen Ordnung. Die Gesellschaft reagiert auch prompt mit einem Prozess gegen Regisseur und Produzent und der Forderung nach Beschlagnahmung und Zensur wegen Obszönität, die allerdings vom Gericht in Venedig mit einem Freispruch als ‹Kunstwerk› aufgehoben wird.

Porcile (1969), Il Decameron (1971), Il fiore delle Mille e una notte (1974) und Salò o le 120 giornate di Sodoma (1975)

Pasolini setzt diese Provokation der bürgerlich-katholischen Gesellschaft durch sexuelle Thematiken obsessiv und skandalträchtig bis zu seiner (bis heute nicht eindeutig aufgeklärten) Ermordung 1975 fort. In Porcile / Der Schweinestall (1969) geht es um Sodomie und Kannibalismus in einer provokanten Konfrontation von archaischer und moderner Welt, in Il Decameron / Decameron (1971) verfilmt er einige Novellen aus Boccaccios Il Decamerone, in I racconti di Canterbury / Pasolinis tolldreiste Geschichten sind es im mittelalterlichen London spielende Geschichten aus dem gleichnamigen Buch von Geoffrey Chaucer und in Il fiore delle Mille e una notte / Erotische Geschichten aus 1001 Nacht (1974), der diese Trilogie des Eros abschließt, bilden Geschichten aus 1000 und einer Nacht die Vorlage. Vor allem die beiden erstgenannten Filme werden in Italien wieder als Skandal und Angriff auf die Moral begriffen (obwohl sie ja in der Vergangenheit spielen und auf literarische Vorlagen zurückgehen), während sie in anderen Ländern problemlos Auszeichnungen bei Festivals und Zugang zu den Kinos gewinnen. Anders als in Teorema wird hier Sexualität als befreiend, als lebensbejahender Eros dargestellt. Höhepunkt der Filme dieser Thematiken und zugleich der Skandale und der Verfolgung durch Staat und Kirche bildet der erst posthum nach Pasolinis Tod uraufgeführte Salò o le 120 giornate di Sodoma / Die 120 Tage von Sodom (1975) nach Die 120 Tage von Sodom des Marquis De Sade.

Der Film weist eine komplizierte strukturelle Gliederung auf, die sich an Dantes Inferno anlehnt und in einzelne Kapitel und eine streng hierarchische Anordnung des Personals eingebracht ist. Pasolini überträgt De Sades Geschichten in das nazifaschistische Italien der Repubblica di Salò 1944. Vier Anführer des Regimes lassen junge Frauen und Männer festnehmen, einsperren und zu Sexsklaven abrichten, die zu jeder Art von Sexualität resp. Perversion gezwungen werden unter Einschluss von Vergewaltigung, Folter und Mord. Diese in aller Deutlichkeit vorgeführte Verbindung von Faschismus, Macht und Entmenschlichung durch Sexualität ist von einem tiefen Pessimismus nicht nur über die Zukunft der modernen Gesellschaft, sondern zugleich über die Produktivkraft der Aufklärung geprägt, wie sie kaum sonst im Kino erscheint. Perspektivisch bleiben da nur noch Niedergang, Barbarei und Tod. Wenn die drei vorhergehenden Filme zum Thema Sexualität in einer Mischung aus Stilisierung und kruder fleischlicher Direktheit noch mehrheitlich den Eros besungen haben, dann steht Salò ganz im Zeichen des Thanatos. Er ruft nicht nur in Italien Staat, Kirche und Zensur massiv auf den Plan, sondern auch in anderen, sonst toleranteren Ländern.

Irmbert Schenk