* 6. Februar 1932, ✝ 21. Oktober 1984

Einen Streich spielen, spontan den eigenen Impulsen folgen, hektisch herbeieilen, um dann doch eine schüchterne Bemerkung zu machen, aufgebrachtes Briefeschreiben und Küsse in allen Varianten – verstohlene bis leidenschaftliche, bisweilen gar geraubte. Die Bilder, die François Truffauts Filme immer wieder aufrufen, sind erfüllt von einer Empathie für emotionale Nonkonformität. Für Flüchtende, Dissidenten, Untreue, für Exaltierte und Exilierte.

François Truffaut (r.) mit Jean Dasté und Jean-Pierre Cargol (Mitte) in Der Wolfsjunge (F 1970), © 20th Century Fox

1954 legt Truffaut als Kritiker der Cahiers du cinéma dar, dass er gerade diese Nähe zu den Protagonisten, diese Suche nach dem Authentischen, im zeitgenössischen französischen Film vermisst. Eine bleierne, überhebliche «Tradition der Qualität» habe sich etabliert, polemisiert er, in der gefühlskaltes bürgerliches Kino entstehe – das «cinéma du papa» nämlich, auf das sich acht Jahre später auch der Schlachtruf des Oberhausener Manifests bezieht: «Papas Kino ist tot!» Truffaut fordert in Eine gewisse Tendenz im französischen Film ein «Kino der Autoren»: Es gelte eigenständige Formensprachen zu prägen, Film als Kunstform, Regisseure als Künstler ernst zu nehmen.

Truffauts eigenen Weg zum Filmemacher nachzuvollziehen lädt – ähnlich der Auteurtheorie – zu Mythisierungen ein. Er wächst, 1932 unehelich geboren, bei einer Amme auf, kommt mit zehn Jahren wieder zu seiner Mutter und seinem Stiefvater. Diese vernachlässigen ihn, während der junge François rebelliert, in Erziehungsheime gesteckt wird und Geborgenheit – so das beliebte Narrativ – nur im Kino findet. Als 19-Jähriger, er hat sich inzwischen freiwillig bei der französischen Armee gemeldet, schreibt er einem Freund aus dem rheinland-pfälzischen Wittlich. In dem Brief vergleicht er sein Schicksal mit einem filmischen: «Ich werde mich bald in derselben Situation befinden wie Jean Gabin am Anfang dieses Films, der in Le Havre spielt.» Gemeint ist Hafen im Nebel (1938), in dem Gabin einen Deserteur verkörpert. «Wundere dich über nichts, vertraue mir, ich handele nicht unbesonnen» endet der Brief.

Die autobiographischen Bezüge zu Truffauts filmischen Durchbruch Sie küssten und sie schlugen ihn (1959) sind kaum zu verkennen. Dessen Schlussszene, in der der von Jean-Pierre Léaud gespielte 14-jährige Antoine Doinel aus einem Erziehungsheim über den Strand ans Meer flieht, gilt als Ikone der Filmgeschichte. Ihre entscheidende Stärke besteht darin, dass sie auf ernüchternde Weise von ihrer Schönheit weiß. Kaum ist Antoine an seinem Sehnsuchtsort angekommen, entpuppt sich dieser als Topos: Das Meer kann dem Jungen auch nicht helfen. Er dreht um, schaut schwermütig in die Kamera, der Schriftzug «FIN» legt sich auf sein Gesicht.

Filme über die Bilder des Kinos – Die amerikanische Nacht (1973) –, über Kinder – Der Wolfsjunge – (1970) und über Frauen – Die Geschichte der Adèle H. (1975) – werden nach dieser Initialzündung Truffauts Karriere prägen. Zugewandt und verständnisvoll erzählt er von Figuren im Abseits, fern der Konventionen ihrer Zeit. «Grundlegendes Ziel eines jeden Kunstwerks» sei es, schreibt Truffaut in seinem Interview-Buch Mr. Hitchcock, wie haben Sie das gemacht?, «uns besser zu verstehen». Seine Inszenierungen bleiben indes weniger sozialkritisch als die Chabrols, weniger avantgardistisch als die Godards. Bescheiden weiß er einerseits nicht etwa mehr als sein Publikum, emphatisch sieht er andererseits in der Liebe, die als Thema alle seine Arbeiten prägt, eine demokratische Kraft.

Alexander Scholz

Dieser Beitrag stammt aus dem Filmkalender 2022. Auch der Kalender für 2023 enthält Portraits von Filmschaffenden und spannende Textbeiträge.