Warum können und müssen wir trotz der Grausamkeiten bei Kriegsfilmen hinsehen?
Krieg überschreitet auch in seiner filmischen Darstellung und Produktion oftmals Grenzen. Es sind Filme über den Krieg und zugleich Filme der Superlative, die uns aus den letzten Jahrzehnten im Gedächtnis geblieben sind: Filme wie APOCALYPSE NOW von Francis Ford Coppola, HIROSHIMA, MON AMOUR von Alain Resnais, THE GREAT DICTATOR von Charlie Chaplin, DAS BOOT von Wolfgang Petersen und CHRIS THE SWISS, von Anja Kofmel. Diese Liga übertrifft nur noch ein Film: KOMM UND SIEH (Sowjetunion 1985) von Elem Klimow.

© Bildstörung / Drop-Out
KOMM UND SIEH ist ein Film, der das Grauen des Vernichtungskriegs nationalsozialistischer Sonderkommandos in Weißrussland in surrealer Manier zuspitzt und damit bis ins Mark erschüttert. Er gehört zu den bekanntesten Filmen der Sowjetunion und wurde allein dort von rund 30 Millionen Menschen gesehen.
„Komm und sieh“ – diese zentrale Botschaft gewinnt angesichts der mitten in Europa und im Gaza-Streifen wütenden Kriege noch einmal mehr an Bedeutung, vor allem für das Kino und die nötige Programmierung von Filmen über kriegerische Konflikte. Warum können und müssen wir hier trotz der Grausamkeiten hinsehen und was macht KOMM UND SIEH so eindringlich?
Authentizität des (Autoren-)Filmers
Elem Klimow (Jahrgang 1933) verarbeitete mit KOMM UND SIEH nicht nur seine eigenen Erlebnisse in der belagerten Stadt Stalingrad 1942/1943, wo er mit seiner Familie als Partisan aktiv war. Seinem Film liegt darüber hinaus das Buch Ich bin aus einem verbrannten Dorf von Ales Adamowitsch, Uladzimir Kalesnik und Janka Bryl zugrunde – die dokumentarische und von der Sowjetführung stark zensierte Sammlung von Aussagen von rund 300 Überlebenden des Vernichtungskriegs der NS-Truppen und ihren Kollaborateuren in Weißrussland.
Der weißrussische Autor Adamowitsch, der mit Klimow das Drehbuch zu KOMM UND SIEH schrieb, und dabei auch auf Motive aus seinem Buch Die Erzählung von Chatyn zurückgriff, kämpfte in gleichem Alter wie der Protagonist im Film ebenfalls als Partisan und wurde selbst Zeuge an den Massentötungen der Dorfbevölkerung.
Zudem entstanden 1975 bis 1978 in Zusammenarbeit mit Adamowitsch Dokumentarfilme wie AUS DEM FEUERDORF (UdSSR 1975) von Viktor Daschuk, der mit seinen detaillierten Porträts von Überlebenden zutiefst erschüttert.
Hautnahes Sehen und überzeugende Figurenentwicklung
KOMM UND SIEH handelt von dem 14-jährigen Fljora (Alexei Krawtschenko in seiner ersten Rolle), der 1943 in einem weißrussischen Dorf lebt und sich kriegsbegeistert Partisanen anschließen will, um gegen die Nazi-Deutschen zu kämpfen. Die deutschen Truppen befinden sich bereits auf dem Rückzug und töten dabei systematisch die Bevölkerung ganzer Landstriche.
Auf seiner Odyssee mit der älteren Glascha (Olga Mironowa) und ihrer entbehrungsreichen Flucht durch das Moor erfährt Fljora, dass sein Dorf und mit ihm seine Familie bereits vernichtet wurden. Schließlich muss der Junge mit eigenen Augen sehen, wie andere Dorfbewohner von Nazitruppen gedemütigt und bei lebendigem Leib in einer Kirche verbrannt werden.

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Es ist ein brutales Coming of Age, das den Jungen am Ende zu einem ähnlichen Greis werden lässt wie der, mit dem der Film in Großaufnahme beginnt. Diesem Gesicht des Jungen steht zuletzt der Horror so tief ins Gesicht geschrieben, wie er sich ebenso dem Zuschauer tief ins Gedächtnis eingraben wird.
Zuspitzung der Charaktere und Schauplätze
Belarus verlor im Zweiten Weltkrieg etwa ein Viertel seiner Gesamtbevölkerung im wirtschaftlich und rassistisch motivierten Vernichtungskrieg, den Hitlerdeutschland gegen die slawischen Völker führte.
Das Narrativ des siegreichen Kampfs der Partisanen im Land prägt noch heute das Bewusstsein in Belarus. Die Zahl der Kriegstoten in Weißrussland liegt zwischen 1,7 Millionen und – nach offiziellen Zahlen der heutigen Regierung – 2,2 Millionen. Zwei Drittel davon stammen aus der Zivilbevölkerung und etwa 500 000 von ihnen waren jüdischen Glaubens. Fast jede Familie und jedes Gebiet waren betroffen. Erinnerungs- wie auch Vergessenskultur prägen kollektive Identität. Sie sind selbst in totalitären Staaten jedoch niemals monolithisch ausgeformt, so der Historiker Christian Ganzer mit Blick auf das Erinnern an den Zweiten Weltkrieg in Belarus.
KOMM UND SIEH konnte nach langen Produktions- und Blockadezeiten 1985 unter den Vorzeichen von Glasnost und Perestroika erscheinen und brachte auch viele kritische Stimmen für Klimow hervor, der zwar einen Film gegen den Krieg und den Faschismus machen wollte, jedoch keinen antideutschen Film beabsichtigte.
Eindringliche Ton- und Bild-Kontraste
Dass Krieg im wahrsten Sinne ohrenbetäubend ist, ist bei KOMM UND SIEH essenzieller Teil des Sounddesigns, unterstrichen durch die enigmatische Musik von Oleg Jantschenko unter dem Einsatz einer dissonanten Geräuschkulisse.
Klimow lässt uns den Film durch die Ohren seines Protagonisten Fljora hören, der nach einem traumatisierenden Bombenabwurf nahezu taub ist und Tinnitus hat. Entsprechend pfeift es im Film, bis der Ton hinuntergezogen wird und damit einen Geräuschfilter über die sich bis zur Perversion steigernden Massaker-Szenen legt.

bei KOMM UND SIEH die Absurdität des Krieges
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Gedreht wurde mit natürlichem Licht, das die düstere Grundstimmung des Films unterstreicht und eine monochrome Bildsprache erzeugt (Produktionsdesign: Viktor Petrow). Es ist eine Pionierarbeit, die hier im sowjetischen Film geleistet wurde, bei der Kameramann Alexej Rodionow mit einer erstmals beweglichen, damals noch mehrere Kilo schweren Steadycam arbeitete, die verstörend zwischen dokumentarischer und mystischer Bildsprache durch die verbrannten Dörfer, schützenden Wälder und bedrohlichen Sümpfe wandelt.
Originalität als Gesamtkunstwerk
Aus den Narben der eigenen verlorenen Kindheit machen Klimow und sein Co-Autor Adamowitsch ein hyperrealistisches ‹Über-Kino›, das bis ins kleinste Ausstattungsdetail wie echtem menschlichen Blut, das aus Blutkonserven von Krankenhäusern stammte, die unheilvolle Atmosphäre des Krieges filmisch transformiert.
Und, wie könnte es anders sein, waren auch hier die Dreharbeiten grenzüberschreitend: Auch wenn es eine psychologische Betreuung für den damals 14-jährigen Hauptdarsteller Alexej Krawtschenko gab, war er während der neunmonatigen chronologischen Drehzeit den unvollstellbaren psychischen Grausamkeiten im Drehbuch und starken körperlichen Extremen bei der Produktion ausgesetzt. Er sollte zudem analog zu seiner Filmfigur hungern und war gezwungen, seine Haare noch lange Zeit nach Abschluss des Drehs wegen der aggressiv grauweißen Entfärbung in dieser Form zu tragen. Sogar die Augenfarbe wurde durch Kontaktlinsen von hellblau am Anfang des Films zu dunkel am Ende geändert.
Echte Munition, die über die Köpfe geschossen wurde und die Kuh in einer Filmszene auch real tötete, sowie deutsche Militärmärsche aus Lautsprechern erzeugten gewaltige Eruptionen am Set, die die Crew verängstigten, wie Regieassistent Wladimir Koslow in einem Interview offenbarte. Viele verließen schließlich sogar die strapaziösen Dreharbeiten oder feierten währenddessen exzessiv, um das fehlende Catering, die am Ende ausbleibenden Lohnzahlungen und die darzustellenden Grausamkeiten des Filmskripts mental zu kompensieren.
Zwiespalt von Rache und Vergebung in künstlerischer Transformation
Am Ende des Films steht Fljora Auge in Auge mit einem Teil der SS-Männer und ihren Schergen, welche die Partisanen fangen konnten. Es ist eine Entscheidung über die Rache gegenüber Tätern, die «nur Befehle» ausführten und «alte kranke Männer und Familienväter» seien, wie ihr SS-Kommandant es im Matsch sitzend beteuert: «Jetzt aber ist Krieg und keiner hat daran schuld.» Fassungslos zeigt Fljora auf einen der Deutschen, der zugibt, vor allem die Kinder getötet zu haben: «Denn alles fängt mit den Kindern an.»

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Die finale aberwitzige Rückwärtsschau von Archivbildern, die mit den KZs aus der NS-Zeit beginnt, und mit Hitlers Kinderporträt in der Kaiserzeit endet, untermalt von einer infernalen Klangkulisse und den Schüssen Fljoras auf das Hitlerfoto in der Pfütze, lässt keinen Zweifel daran: Alles beginnt mit den Kindern, sogar das Schreckensregime von Hitler, der auch einst von seiner Mutter geboren wurde. Könnte man diese Verirrung doch rückgängig machen!
Und gemeinsam mit Fljora zieht ein weiterer kleiner Junge mit den Partisanen erneut in den Kampf, nachdem die Feinde durch die Partisanen erschossen wurden.
Zentrale Botschaft
„Komm und sieh“ – das Zitat aus dem Johannes-Evangelium ist eine Aufforderung, die bei diesem Werk so quälend wirkt, dass man diesen Film im Grunde nur ein einziges Mal in seinem Leben ertragen kann.
Bei aller ideologischen Aufladung ist es eine eindringliche filmkünstlerische Position, die wie mit einem Brennglas auf unvorstellbare Kriegsverbrechen zeigt, die sowohl in Belarus als auch in Deutschland bis heute noch immer nicht vollständig aufgearbeitet wurden.
Als Imperativ stellt KOMM UND SIEH die wichtigste Aufgabe dar, die sich für unsere Gesellschaft ebenso wie für Filmkünstler:innen, das Kino und ihre Kurator:innen stellt: Wir müssen Erinnerungskultur über den Krieg gemeinsam teilen und den künstlerischen Blick auf kriegerische Konflikte gleichzeitig immer wieder neu und kritisch beleuchten.
Die Speerspitze bilden die oben genannten sechs Werke aus der Filmgeschichte. Sie besitzen traurige Aktualität und haben in ihrer Wirkkraft auf der Leinwand in nichts nachgelassen. Aus ihrem oftmals schmerzhaften Entstehungsprozess lässt sich zugleich für die Zukunft lernen, dass der Zweck nicht alle Mittel am Set heiligt, auch wenn diese Gesamtkunstwerke zugegebenermaßen einen anderen Eindruck vermitteln.
Ihre beschwörenden Szenarien schaffen etwas, was den täglichen Nachrichtenbildern oft nicht mehr gelingt: Uns immer wieder über die unmenschliche, generationen- und nationenübergreifende Gewaltspirale des Krieges hinweg neu hinsehen und nachdenken zu lassen, um eines Tages hoffentlich endlich Frieden schließen zu können.
Morticia Zschiesche
Ein gekürzter Auszug aus der Essay-Reihe Kino macht mobil – Essays zur Zukunft des Kinos von Morticia Zschiesche.
Die anderen Essays des Bandes behandeln u.a. die oben genannten Filme sowie den Kriegsfilm und seinen Implikationen allgemein. Die zweite Essayreihe des Buches widmet sich dem Wanderkino.

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