Ein Auszug aus FilmZeit – Zeitdimensionen des Films über den Film Victoria (2015)

‹Echtzeit› klingt nach Authentizität, nach unverfälschter, unmittelbar direkter Darstellung und ‹live dabei sein›. Als Eigenzeit des Filmischen wird das Konzept der Echtzeit technisch zunächst mit einer Plansequenz in Verbindung gebracht. Plansequenzen laufen als lange Einstellungen in Echtzeit ab, um Kontinuität zu erzeugen und realistisch zu wirken.

Es gibt in vielen Filmen Echtzeit-Sequenzen. Seltener sind extrem lange Plansequenzen. Besonders rar sind Filme, die durchgängig in Echtzeit ablaufen. Manche von ihnen sind als Plansequenzen gedreht, wie Mike Figgis’ Timecode (USA 2000), Alexander Sokurovs Russian Ark (RUS u. a. 2002) und Sebastian Schippers Victoria (D 2015).

VICTORIA – Boxer wird zum Bankraub verpflichtet (D 2015)
Ein besonderes Filmprojekt

2015 ist der deutsche Echtzeit-Film Victoria in die Kinos gekommen, der nachts zwischen halb fünf und sieben Uhr morgens in Berlin Mitte in einem einzigen Take gedreht wurde und über zwei Stunden dauert. Er handelt von der jungen Spanierin Victoria, die neu in Berlin ist und in einem Club vier junge Männer kennenlernt. Sie geht mit ihnen mit, sie sitzen gesellig zusammen auf einem Hochhausdach, bis sie sich verabschiedet, um in das Café zu gehen, in dem sie
in wenigen Stunden würde arbeiten müssen. Die erste Filmhälfte entwickelt sich wie eine Liebesgeschichte im Berliner Nachtleben, denn Victoria freundet sich mit Sonne, dem Kopf der Gang, an. Es kommt zu einer Wende, als Boxer, der Ex-Knacki der Gruppe, gezwungen wird, sofort einen Banküberfall zu begehen, um seine Schulden bei dem ehemaligen Mitinsassen Andi zu begleichen, der ihn im Gefängnis beschützt hat. Der Raub scheint geglückt zu sein und wird im Techno-Club gefeiert, bis es am Ende doch noch zu einer Verfolgungsjagd mit der Polizei kommt, die katastrophal ausgeht.

Im Unterschied etwa zu Rope (USA 1948) hat dieser Film nichts Kammerspielartiges, denn der Einheit und Kontinuität der Zeit werden über zwanzig räumliche Wechsel entgegengesetzt. Die Drehorte befinden sich zwar sämtlich zwischen Brandenburger Tor und Kreuzberg, aber sie sind sehr heterogen: Techno-Club, Straße, Aufzug, Dach, Café, Wohnung etc. Es ist also nicht so, dass – wie in Birdman (USA 2014) – Anleihen beim Theater gemacht werden.

Dazu ist der Dialog auch zu wenig im Fokus des Films, zumal die deutschen Sprecher untereinander in undeutlichem Berliner Jugendjargon und mit der Spanierin in stockendem Englisch sprechen. Zwar wird viel gesprochen, aber eben weitgehend Belangloses wie in dem Heist-Movie Reservoir Dogs (USA 1992) und anderen Tarantino-Filmen, das heißt, der Film lebt nicht von geistreichen oder geschraubten Drehbuch-Dialogen à la Woody Allen. Es handelt sich bei Sebastian Schippers Drehbuch um ein zwölfseitiges Skript, das nur die Struktur der Handlung vorgibt, während weite Teile des Films von der Improvisation der Schauspieler leben. Es ist daher nicht nur die erstaunlich lange Plansequenz, die dem Film seine Authentizität gibt, sondern auch das Method Acting der Schauspieler, die sich ihre Rollen so überzeugend aneignen, als verkörperten sie diese tatsächlich: Sie spielen auf professionelle Weise ganz banale Typen, deren Sprache nicht nach Schauspielkunst klingt.

Echtzeit als Echtheit

Zwischen den Darstellern entwickelt sich eine Dynamik, die nur dadurch möglich ist, dass keine Schnitte den treibenden Rhythmus unterbrechen. Sie gehen vollkommen in der Gegenwart ihrer Handlung auf. Diese Produktionsbedingungen machen den Film so intensiv. Die ‹echte› Echtzeit an einem ‹realen› Ort mit authentisch wirkenden Darstellern reduziert die gefühlte Distanz der Zuschauer zum Geschehen. Sie werden von der Jetzt-Zeit der plötzlichen Ereignisse mitgerissen.

Die Illusion der Zuschauer, mitten im Geschehen zu sein, wird zudem durch das Kameraverhalten mitkonstituiert. Die Digitalkamera ist ständig in Bewegung, und die Bildebene hat auch durch das natürliche Licht keinen Studiofilm-Charakter. Wenngleich der norwegische Kameramann Sturla Brandth Grøvlen durch seine Ausdauer und die variantenreichen Einstellungen Großes geleistet hat und dafür mit dem Silbernen Bären ausgezeichnet wurde, ist der Effekt, dass der Film handgemacht und nicht formvollendet erscheint.

VICTORIA – Victoria spielt für Sonne auf dem Klavier (D 2015)

Kunstvoll wirkt an dem Film allein der Ton, die Tonqualität und auch die Musik, die sogar auf der diegetischen Ebene vom Tonband kommt, wenn Victoria im Café Franz Liszts Mephisto-Walzer auf dem Klavier spielt. Einerseits fällt diese Szene stilistisch etwas aus dem Rahmen. Andererseits passt das anspruchsvolle, wilde und abgebrochene Spiel zu Victorias Charakter, der durch einen Bruch in der Biografie gekennzeichnet ist (erst Klavierstudentin am Konservatorium, dann Kellnerin für vier Euro die Stunde). Der nicht-diegetische tranceartige Soundtrack von Nils Frahm überlagert in einigen Szenen die Atmo. Hier scheint die Uhr anders zu ticken, das Zeiterleben aufgehoben zu sein, aber faktisch läuft alles in Echtzeit weiter.

Die Erschöpfung am Ende des Films dürfte für die Schauspieler echte Erschöpfung gewesen sein: nach über zwei Stunden Non-stop-Dreh-Marathon in der späten Nacht an verschiedenen Orten in Berlin. Dieser Film ist ein eindrückliches Beispiel dafür, wie Echtzeit den Realitätseindruck steigern, die Distanz einziehen und folglich Echtheit verbürgen kann, obwohl die Handlung in ihrer spektakulären Ereignisdichte konstruiert erscheint.

Susanne Kaul

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