Gedanken zur Gestaltung von bewegten Bildern

»Michael, I do not know, when do I have to move the camera?« eine beherzte Frage aus dem Auditorium der Columbia University, von jemandem, der seinen ganzen Mut zusammengenommen hat, »Maybe it is a silly question«. Ich bin hier, zum zweiten Mal schon, als guest lecturer für die Studentinnen und Studenten dort, die alle Regie, Drehbuch oder Produktion studieren. Vor mir sitzen aber hauptsächlich die Regieleute. Eine Kameraklasse, Bildgestaltung gibt es an der Columbia nicht. Unheimlicher Respekt vor der Arbeit, dem Handwerk, der Kunst der Bildgestaltung. Daher die anfänglichen Berührungsängste, auch die Frage wird mir gestellt: Wie spreche ich überhaupt mit einem DoP (Director of Photography). Aber nachdem ich einige der Student:innen im one to one kennengelernt hatte, wo wir ihre Drehbücher unter den dramaturgischen, aber auch technischen Gesichtspunkten der Bildgestaltung durchgearbeitet haben (Lichtdramaturgie, Auflösung, Farbgestaltung) und sich herumgesprochen hat, dass man sich mit Kameraleuten, Directors of Photography durchaus unterhalten kann, füllt sich der Terminkalender und die beiden freien Tage sind perdu. Dann die Abendveranstaltung, der »Indie-Hit«, von dem alle träumen, wie die Regiekollegin meinte, die Projektion von Mostly Martha, der in New York und anderen amerikanischen Städten ein, genau, »Indie-Hit« war, die Stimmung ist gelöst und die Diskussion nach dem Film, wie immer mit Filmstudierenden, erfrischend, herausfordernd und anstrengend.
When do I have to move the camera? Die Frage erwischt mich kalt.

Anfänge im Filmbetrieb

Ich erinnerte mich an meine erste Kameraarbeit. Neu an der dffb, der Deutschen Film und Fernsehakademie Berlin, der ersten Westdeutschen Filmhochschule und im Jahr 1986, in dem ich angenommen werde, und neben München, wo man mich zweimal abgelehnt hatte, die einzige in Westdeutschland. Im Potsdam Babelsberg, vor oder hinter der Mauer, je nachdem, gab es natürlich noch eine. Heute gibt es unzählige. Im ersten Jahr an der dffb war und ist zum Glück immer noch die Ausbildung generalistisch, alle Studierende erhalten eine Grundausbildung in Bild, Regie, Ton, Schauspiel, Schnitt usw., um am Ende des Jahres in kleineren Gruppen jeweils einen kurzen ersten Film zu realisieren. Man macht seinen eigenen Film als Regisseur, führt die Kamera bei einem Kommilitonen, macht Ton bei einem anderen usw. – so lernt man alles etwas, man lernt vor allem aber das Verständnis für die anderen Gewerke und man lernt, zusammenzuarbeiten.

Natürlich wollten fast alle Filmemacher, Regisseur werden, ich auch. Die heute
übliche Einteilung in die einzelnen Gewerke, für die man sich jeweils bewerben konnte, gab es damals nicht. Über den Film, den ich als Regisseur realisiert habe, brauche ich kein Wort zu verlieren, er war ziemlich belanglos. Der Film, den ich für meinen Freund Rüdiger fotografieren durfte, Shuryoka, war für mich aber ein einschneidendes Erlebnis. Letztendlich begann an diesen drei Tagen meine Liebe für die Bildgestaltung. Von wahren Begebenheiten von erst nach langen Jahren nach dem Krieg wieder aufgetauchten japanischen Soldaten auf einsamen Pazifikinseln inspiriert, schrieb Rüdiger eine Geschichte, die den Tagesablauf eines dieser Soldaten zeigte, der ganz allen vergessen von der Welt, auf seiner Insel, hier ein Abbruchgebäude an der Lehrter Strasse, auf Patrouille geht, sich um Nahrung kümmert, Tai Chi macht, seltsame Objekte bastelt, seine Waffe putzt, Feuer macht und sich zum Schlafen hinlegt. Gedreht in Schwarzweiss 16mm, hochempfindliches Agfamaterial.

Die Einstellung, um die es hier geht, ist ein Schwenk mit diesem Soldaten auf Pirsch, vorsichtige Schritte auf verstreuten Flaschensplittern, geräuschlos, katzenhaft aus der Dunkelheit des Treppenhauses vorbei an einem nach Süden gerichteten Fenster, durch das die Junisonne steil und grell hereinfiel in die dunkle Halle, in der, eine andere Geschichte zum Thema Bewegung, er später sein Tai Chi-Tanzritual aufführen würde. Die Kamera ist eingerichtet, eine erste Probe und ich sehe, (wie gesagt, wir waren alles Anfänger, das hätte man natürlich vorher bemerken können, müssen) wenn ich den Mann in der Dunkelheit des Treppenhauses gerade noch erkennen möchte und ich ihn am Ende des Schwenks in der Halle in samtenen Grau, also richtig belichtet haben möchte, reisst er vor dem Fester völlig aus. Die Helligkeit der Mittagssonne überstrahlt alles und hätte das Bild komplett ausgebrannt. Eine weitere Probe, und ich werde nervös,
so geht es nicht. Noch weiß niemand von dem Problem, wie gesagt wir sind alle Anfänger, einen Monitor zur Kontrolle gibt es nicht (gibt es auch heute bei der Erstjahresfilmen an der dffb immer noch nicht, aus gutem Grund) aber ich brauche eine Idee. Ich stehe neben der Kamera den Kopf gesenkt und in dem Moment geht der Schauspieler zurück in das Treppenhaus, vorbei an mir und an der Kamera und ich bemerke den Lichtfleck der Sonne am Boden und seinen Schatten der sich grafisch durch das Bild schiebt. Und habe die Lösung.

Genug geprobt, findet Rüdiger, wir drehen und ich schwenke in dem Moment, als der Schauspieler ins grelle Licht vor dem Fenster tritt, langsam auf seine Beine runter, auf die Füße in den Soldatenstiefeln, die vorsichtig auf die Glasscherben treffen, und das Schattenspiel und seine Silhouette vor dem Lichtfleck und schwenke langsam wieder hoch in die große graue Halle. Mein erster echter Schwenk.

»When do I have to move the camera?«

Die Muster drei Tage später im Kino, Rüdiger ist begeistert, zum Glück, während der Aufnahme hatte er nur auf den Schauspieler geachtet. Wie gesagt, unser erster Film. Es gab hier eine simple technische Notwendigkeit, das Bild anders zu gestalten. Das bemerkenswerte aber, und für mich war es wie eine Epiphanie, das Bild war zum ersten mal lebendig geworden, die Bewegung der Kamera in Zusammenhang mit der Bewegung des Schauspiels und der Bewegung von Licht und Schatten auf dem Boden ergaben im Moment der Aufnahme, dieser der Kinematografie ureigenen Qualität, die Aufnahme, etwas völlig Neues, vorher nicht Bedachtes und Besseres als die ursprüngliche Idee. Und ich hatte mich verliebt.
»When do I have to move the camera?«, kurz habe ich gezögert und dann geantwortet:
»Frankly, I do not know.«

Und natürlich weiß ich oder – es geht ja um künstlerische Entscheidungen und nicht wissenschaftliche Erkenntnisse – glaube ich zu wissen, wann man eine Kamera bewegt. Die Frage des Regiestudenten hat mich nicht mehr verlassen und das Ergebnis ist »Das richtige Bild«.

Michael Bertl

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