*5. November 1960

Es war eine eindrückliche Geste der Trauer. 1995 legte sich Tilda Swinton in einen gläsernen Sarg. Eine Woche jeden Tag acht Stunden lang. „The Maybe“ hieß die Ausstellung in der Londoner Serpentine Gallery, in der die Schauspielerin als lebendes Exponat ihrem Mentor und Künstlerfreund Derek Jarman die letzte Ehre erwies. Jarman war 1994 an Aids gestorben. „Derek Jarman war eine Gegenkraft“, sagte Swinton einmal in einem Interview mit der „Zeit“, „aber von innen, aus dem Herzen der Kultur heraus. Ich fühlte mich wie ein Kind, das in dieser Umgebung erzogen wurde. Denn die Zeit mit Jarman war meine Geburt als Künstlerin.“ Sieben Filme haben die beiden zusammen gemacht. Unvergessen ist ihr erster Auftritt auf der Leinwand, in CARAVAGIO 1986: Swinton mit schmutzverschmiertem Gesicht, ein Mädchen von der Straße, das von dem italienischen Maler porträtiert wird. Sie nimmt ihr Kopftuch ab und entblößt ihre langen roten Haare. Eine Ikone war geboren – im Film selbst und in der Welt des Undergroundkinos. In THE LAST OF ENGLAND – VERLORENEN UTOPIEN (1987) spielte sie eine Braut im assoziativen Abbruchfeld zwischen Viktorianismus und Thatcherismus, im nicht minder experimentellen EDWARD II die intrigante Königin Isabella in prachtvoller Kostümierung. In den magischen Bildentwürfen Jarmans war Swinton immer mehr Teil eines Gemäldes als eine psychologisch agierende Schauspielerin.

Die politische und ästhetische Gegenkultur war ihr nicht gerade in die Wiege gelegt worden. Ihre Familie stammt aus dem schottischen Hochadel und lässt sich bis ins Jahr 780 zurückverfolgen. Ihr Vater – Sir John Swinton of Kimmerghame – war General der Scots Guards, einer der fünf Leibgarden der Queen, und führte zu Hause ein strenges Regiment. Er schickte seine Tochter auf das britische Nobelinternat West Heath, wo sie die Schulbank mit Diana Spencer, der späteren Frau von Prinz Charles, teilte. Nach einem Studium der Sozialwissenschaften und Englischen Literatur in Cambridge schloss sich Swinton für kurze Zeit der Royal Shakespeare Company an, bis sie die Bekanntschaft mit Derek Jarman machte. Ihren internationalen Durchbruch feierte sie jedoch 1992 mit Sally Potters ORLANDO, der Verfilmung des gleichnamigen Romans von Virginia Woolf. Swinton spielte einen Adeligen, der 400 Jahre lebt und sich in dieser Zeit vom Mann zur Frau wandelt. Die Aura des Aristokratischen und Androgynen umfing eine Vielzahl ihrer Rollen, die sie auch nach dem Tod Jarmans vornehmlich außerhalb des Mainstreams suchte. Auch im Privaten beschreitet die Schauspielerin einen unkonventionellen Weg: Sie lebt mit dem Maler John Byrne und ihren gemeinsamen Zwillingen zurückgezogen in den schottischen Highlands und ist zugleich seit einiger Zeit mit dem Künstler Sandro Kopp liiert.

Foto: Camille Natta / © Les Productions Bagheera

Nach Auftritten in Arthouse-Filmen wie FEMALE PERVERSIONS (1996), LEIDENSCHAFTLICHE BERECHNUNG (1997) oder in Tim Roths Regiedebüt THE WAR ZONE (1999) übernahm sie in den letzten Jahren immer öfter Ausflüge in große Hollywood-Produktionen: in THE BEACH (2000) mit Leonardo di Caprio etwa, in VANILLA SKY (2001) mit Tom Cruise oder in der Comicverfilmung CONSTANTINE (2005) mit Keanu Reeves. Im Fantasy-Epos und Blockbuster DIE CHRONIKEN VON NARNIA: DER KÖNIG übernahm sie 2005 die Rolle der weißen Hexe Jadis. Für ihre Darstellung einer skrupellosen Juristin in dem Thriller MICHAEL CLAYTON (2007) erhielt Swinton 2008 einen Oscar als beste Nebendarstellerin.

Star-Glamour und rote Teppiche sind aber nicht ihre Welt. „Der Oscar ist doch eher ein Filmbusiness-Preis“, sagte sie einmal in einem Interview. „Deshalb habe ich ihn auch gleich meinen Agenten geschenkt. Ich gehöre sicher nicht zu denen, die sich so ein Ding zu Hause auf den Kaminsims stellen.“ Swinton, die 2009 bei der Berlinale Jurypräsidentin war, blieb bis heute dem Autorenfilm treu. Herausragend ihre Darstellung in JULIA (2008) von Erick Zonca, wo sie eine Alkoholikerin spielte. Vielleicht ihre erste wirkliche Charakterrolle. Und sie ist Derek Jarman auch nach seinem Tod treu geblieben. 2008 schenkte sie ihm zusammen mit dem Regisseur Isaac Julien eine Hommage, DEREK. Darin liest sie einen Brief vor, den sie 2002 an Jarman gerichtet hat. Er ist überschrieben mit: „Letter to an Angel“.

Dieser Beitrag stammt aus dem Filmkalender 2010 aus dem Schüren Verlag. Auch in der aktuellen Ausgabe des Kalenders finden sich lesenwerte Porträts und Beiträge.