Russische Filmklassiker zum Kennenlernen

Wir setzen unsere Reise durch die osteuropäische Filmkultur fort und werfen einen Blick auf den sowjetischen und russischen Film. Wer von der sowjetischen Film-Avantgarde spricht, meint meist das revolutionäre Kino der 1920er- und 1930er-Jahre. Doch auch in der Zeit nach Stalins Tod bis zum Ende der UdSSR entstanden Meisterwerke, etablierten sich große Regienamen, gab es ästhetische Höhepunkte und Experimente.
Wir zitieren stellvertretend aus drei Filmanalysen der 2-bändigen Sammlung Klassiker des russischen und sowjetischen Films.

Der Mann mit der Kamera (1929)

Regie: Dziga Vertov

Im Jahr 1929, am Höhepunkt seiner künstlerischen Karriere stehend, wagte sich der Experimentator unter den sowjetischen Filmemachern an das Projekt, einen Film ganz ohne Zwischentitel zu gestalten, sich also ausschließlich mittels Filmsprache dem Publikum verständlich zu machen. Um auf der Leinwand den Schauplatz einer fiktiven sowjetischen Großstadt entstehen zu lassen, in der sich der titelgebende Kameramann bewegt, drehte Vertov über mehrere Jahre hinweg an verschiedenen Orten.
Seine Hauptdarsteller suchte Vertov im realen sowjetischen Alltag, zum Beispiel auf den Straßen der Großstädte oder in den Fabriken. Sein Interesse galt hierbei auch den Maschinen; sein euphorischer Ausruf «Uns ist die Freude tanzender Sägen einer Sägemaschine verständlicher und vertrauter als die Freude menschlicher Tanzvergnügungen» untermauert, dass er dem futuristischen Weltempfinden nahe stand. Die Fehlerlosigkeit und der maschinelle Rhythmus von Produktionsvorgängen, das Tempo und die gleichförmige Präzision von Arbeitsprozessen faszinierten Vertov.

Der Mann mit der Kamera (1929) (Österreichisches Filmmuseum)


Das Glück (1935)


Regie: Aleksandr Medvedkin

Das Glück war einer der letzten sowjetischen Stummfilme. Die Entscheidung des Regisseurs gegen den Ton war rein pragmatischer Natur: Medvedkin wollte den Film vor allem in der Provinz zeigen, wo die Arbeiter- und Bauernclubs noch nicht mit der neuen Projektionstechnik ausgestattet waren. Medvedkin, der seit 1920 bis zum Ende seines Lebens im Jahr 1989 ein überzeugtes Mitglied der Kommunistischen Partei war, wollte mit seinem Agitationsfilm die Bauern für die mit Stalins Fünfjahresplan 1929 einsetzende Kollektivierung der Landwirtschaft gewinnen.
Der Untertitel des Films erklärt Einiges über das Vorhaben seines Schöpfers: «Ein Märchen über den vom Pech verfolgten Besitzer Chmyr’, seine Frau Anna, die zugleich sein Pferd ist, den satten Nachbarn Foka und auch über den Popen, die Nonnen und andere ‹Vogelscheuchen›».
Die Geschichte sollte den Zuschauer zu einer Schlussfolgerung bewegen, die für Medvedkin offensichtlich war und den ideologischen Anforderungen der Zeit entsprach: Das Glück kann nicht im Streben nach Besitz und Privateigentum bestehen.


Aufstieg (1977)

Regie: Larisa Šepit’ko

«Gibt es ein Mittel gegen die so nachhaltig verführerische Wirkung, die vom Krieg ausgeht?», fragt Susan Sontag gegen Ende ihres Essays Das Leiden anderer betrachten. Wirksamer als einzelne Bilder, so Sontags Antwort, seien wahrscheinlich Erzählungen, in die man viel mehr Zeit «mitfühlend investieren» müsse: Kein Foto, keine Fotoserie könne so «weiter- und immer weitergehen» wie der Film Aufstieg der ukrainischen Regisseurin Larisa Šepit’ko, «der ergreifendste Film über die Traurigkeit des Krieges, den ich kenne».
Krieg und Gewalt führen die Akteure dieses Films in extreme Situationen, sodass das mitfühlende Publikum geradezu gezwungen ist, auch das eigene Gewissen, das eigene Tun und Lassen zu prüfen.
Eine in den Wäldern versteckte Partisaneneinheit wählt zwei ihrer Männer aus, um dringend nötige Lebensmittel zu beschaffen: Rybak und Sotnikov. Schließlich können die Partisanen dem von den Deutschen eingesetzten Dorfältesten ein Schaf abnehmen. Auf dem Rückweg treffen sie zufällig auf eine Patrouille der den Besatzern dienenden einheimischen Polizei, werden verhaftet und von einheimischen Polizisten misshandelt und verhört. Während Sotnikov dem Vernehmer Portnov selbst unter Folter nicht einmal seinen Namen verrät, bricht Rybak schon unter Drohungen zusammen und erklärt sich bereit, für die Polizei zu arbeiten. Die Mitgefangenen verachten Rybak für seinen Verrat, beklagen aber zugleich, dass sie wegen ihrer unfreiwilligen Hilfe für die Partisanen sterben sollen. Gemeinsam werden sie hingerichtet.
Erst im Epilog wird Rybak bewusst, was er getan hat. Aber er scheitert kläglich beim Versuch, sich selbst das Leben zu nehmen. Er muss mit seiner Schuld weiterleben.

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