* 22. August 1955

2009 öffnete Thomas Heise sein Kellerarchiv und brachte Bilder, Fragmente und Notizen nach oben, die er in anderen Filmen nicht unterbringen konnte und die zum Wegschmeißen zu wertvoll waren. MATERIAL hieß die knapp dreistündige Montage, ein monumentales Filmgedächtnis, in dem die Geschichte vom Ende der 80er Jahre bis in die Gegenwart in assoziativen Schleifen verläuft. Der 4. November 1989 etwa: Großdemonstration auf dem Alexanderplatz in Berlin, Heise filmt nicht die Redner, sondern die Gesichter der Zuhörer. Oder die brutale Räumung besetzter Häuser in Berlin-Friedrichshain am 14. November 1990, ein apokalyptisches Inferno, für Heise die erste Duftmarke des wiedervereinigten Deutschland. „Man kann sich die Geschichte länglich denken“, sagt er in MATERIAL aus dem Off, „sie ist aber ein Haufen.“ Ein Haufen disparater Dramaturgien und Materialien – das Strukturprinzip der jüngeren Filme des Dokumentaristen überhaupt, der sich in seiner künstlerischen Karriere immer mehr vom linearen Erzählen entfernt und offenen Montagen zugewandt hat.

Am bislang gelungensten in IM GLÜCK (NEGER) (2006), einem Film über das Erwachsenwerden von vier jungen Leuten. Heise hatte mit ihnen sechs Jahre zuvor ein Stück von Heiner Müller inszeniert und sie wieder aufgesucht. Er erzählt gegen das zeitliche Nacheinander, in Brocken und Fetzen, und verzichtet auf Interviews, weil die Protagonisten, wie er einmal in einem Gespräch sagte, sich inzwischen an Formen der Selbstdarstellung orientierten, wie sie sie aus dem Fernsehen kennen. Heise wählte den Weg der direkten Inszenierung: Er lässt die Jugendlichen Briefe vorlesen und Auszüge aus literarischen Dokumenten.

IM GLÜCK (NEGER) ist wie ein Kondensat früherer Arbeiten. Motive scheinen auf wie die Ratlosigkeit und der Trotz der jungen Nazis in Stau – Jetzt geht’s los (1992) und Neustadt (Stau – Der Stand der Dinge) (2000) oder das Identitätskarussel in BARLUSCHKE (1997), dem Porträt eines Mannes, der alles und nichts ist: Erst Spion der DDR, dann in Diensten des BND, reflektierter Mann von Welt und kontrollbesessener Familientyrann. Auch die archäologischen Bohrbewegungen von VATERLAND (2002) finden sich wieder, wo Heise einen verlassenen Militärflughafen in der ostdeutschen Provinz als Schnittpunkt verschiedener Biografien und Zeiten zeigte: Errichtet von jüdischen Zwangsarbeitern, zu denen auch sein Vater gehörte, später Startbahn für die sowjetischen MIGs und Spielplatz für Spezialkommandos der NATO, heute ein Friedhof mehr innerhalb der Nachwendewüste.

Heises eigene Geschichte ist wie die eines Großteils seiner Protagonisten geprägt von Brüchen und Rissen, von Provokation und Dissidenz. Erst mit dem Ende des DDR-Regimes und seiner restriktiven Kulturpolitik war es ihm möglich, Filme zu drehen. Der Sohn des Philosophieprofessors Wolfgang Heise absolvierte zunächst eine Druckerlehre, bevor er von 1975 bis 1978 als Regieassistent im DEFA-Studio für Spielfilme – unter anderem von Heiner Carow – arbeitete. Sein Regiestudium an der Hochschule für Film und Fernsehen „Konrad Wolf“ musste er vorzeitig abbrechen, weil der Hochschulleitung sein Erstling WOZU ÜBER DIESE LEUTE EINEN FILM? (1980) – ein kurzes dokumentarisches Stück über zwei junge Kleinganoven – nicht passte. Doch auch nach der Wende ließ ihn das Thema DDR nie ganz los. In MEIN BRUDER – WE’LL MEET AGAIN (2005) spiegelte Heise noch einmal seine eigene DDR-Biografie. Er besuchte seinen Bruder Andreas, der nach drei Herzinfarkten und einer Bypassoperation in ein winziges Dorf in Südfrankreich gezogen ist und in der kleinen Pension eines Freundes als Koch arbeitet. Dieser Freund war früher, wie nach der Öffnung der Archive herauskam, IM bei der Stasi und hatte auch Informationen aus dem Leben der beiden Brüder weitergegeben. Heise in einem Interview: „Die DDR ist wieder da, die wandert immer mit, egal, wo man ist.“

Aus dem Filmkalender 2010

Auch im Filmkalender fürs Jahr 2021 gibt es viele schöne Texte zu Themen und Personen