Alexander Stark über seine Dissertationsschrift über die «filmende Bäckersfrau» Elisabeth Wilms
Dortmunds Stadtzentrum liegt in Trümmern. Die Kamera schwenkt über endlose Schuttberge, zerstörte Gebäude, halbierte Treppenhäuser und den stark beschädigten Glockenturm einer Kirche. Inmitten dieses Chaos hausen Menschen – in feuchten Kellern, in Wohnungen, denen ganze Wände fehlen, in selbstgebauten Verschlägen. Unterernährte Kinder erkunden in zerschlissenen Kleidern die Ruinen. Um zu überleben, stehlen die Menschen Kohle von Güterwaggons, durchsuchen Müllhaufen nach Essensresten und nützlichen Dingen und sind auf die Unterstützung der zahlreichen internationalen Hilfsorganisationen angewiesen, die in der Stadt aktiv sind.
Diese dokumentarischen Filmaufnahmen, die in den ersten Monaten und Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg entstanden sind, sah ich zum ersten Mal im Jahr 2012. Dass es jemals wieder solche Bilder aus Europa geben würde, erschien mir damals noch undenkbar – heute weiß ich es leider besser. Und obwohl der Zweite Weltkrieg bereits fast siebzig Jahre zurücklag, obwohl die Aufnahmen schwarz-weiß waren und es keinen Originalton zu ihnen gab, machten sie großen Eindruck auf mich. Das lag vor allem daran, dass es die Person hinter der Kamera es geschafft hatte, den Menschen vor ihrer Kamera immer wieder sehr nah zu kommen und persönliche Situationen zu dokumentieren. Diese Frau hinter der Kamera war die Dortmunderin Elisabeth Wilms (1905–1981), die erst wenige Jahre vor Entstehung dieser Aufnahmen ihre Leidenschaft für das Hobby des Filmens entdeckt hatte.
Für Wilms, die eigentlich gemeinsam mit ihrem Mann in Dortmund eine Bäckerei mit angeschlossenem Lebensmittelgeschäft betrieb, waren die Trümmerbilder aus ihrer Wahlheimat der erste Schritt dazu, dieses Hobby zum Beruf zu machen: Denn war sie anfangs noch auf eigene Faust unterwegs, dokumentierte sie 1947/48 vor allem für das Hilfswerk der Evangelischen Kirche in Deutschland dessen karitative Arbeit in der Stadt. Aus ihrem Material kompilierte sie zwei Filme, die die Organisation zur Spendenakquise einsetzte und die, diesem Zweck entsprechend, auch durch Auslassungen auffallen: Sie zeigen keine Besatzer, benennen ebenso wenig die Verbrechen der Nationalsozialisten wie auch den Umstand, dass der Krieg, der das gezeigte Leid erst hervorgerufen hatte, von Deutschland ausgegangen war.
Waren diese beiden Filme für Elisabeth Wilms die ersten Karriereschritte, so wurden sie für mich zum ersten Einstieg in die Beschäftigung mit der Arbeit der «filmenden Bäckersfrau», die in den Jahren des Wiederaufbaus in der noch jungen Bundesrepublik Deutschland schnell zu einer erfolgreichen Filmproduzentin aufstieg und damit als Frau in einem Bereich aktiv war, der von Männern dominiert und hart umkämpft war. Bis zu ihrem Tod im Jahr 1981 realisierte sie rund 100 Filme, davon rund 60 im Auftrag diverser Kunden, wie etwa der Stadt Dortmund und ihrer kommunalen Betriebe, den Vereinigten Elektrizitätswerken Westfalen, dem Rheinstahl- und dem Thyssen-Konzern sowie unterschiedlicher klerikaler und karitativer Organisationen.
Gebrauchsfilme als Teil von Erinnerungskultur
Keiner von diesen Filmen war jedoch für den kommerziellen Kinobetrieb vorgesehen. Vielmehr lässt sich ein großer Teil von Wilms‘ filmischem Lebenswerk jener Filmgattung zuordnen, die die Filmwissenschaft unter dem Begriff «Gebrauchsfilm» subsummiert. Sie umfasst ganz verschiedene Filmformen, die sich nicht in erster Linie über ihre inhaltlichen oder ästhetischen Merkmale definieren, sondern über ihre Verwendungszusammenhänge: Gebrauchsfilme lassen sich als Werkzeuge begreifen, mit denen ein Auftraggeber, der selbst nicht im Filmgeschäft tätig ist, dem Publikum seine Intentionen vermitteln möchte.
Im Falle des Hilfswerkes der Evangelischen Kirche in Deutschland ging es also beispielsweise darum, das Publikum für die Arbeit der Organisation zu sensibilisieren und so um Spenden zu werben, die eine Weiterführung dieser Arbeit ermöglichten. Der Rheinstahl-Konzern pries mit ihnen auf Fachmessen seine neuesten Produkte an. Die Stadt Dortmund versuchte mit ihnen, die Entscheidungen der Lokalpolitik gegenüber ihren Bürgern zu verargumentieren. Gebrauchsfilme fanden und finden als mediale Instrumente für Forschung, Lehre, Werbung, Aufklärung, Konsensstiftung und Gemeinschaftsbildung Anwendung und waren und sind dementsprechend vor allem außerhalb des Kinosaals anzutreffen.
Lange haben sich weder die Filmarchive noch die Filmwissenschaft für Produktionen aus dem Amateurfilm- und dem Gebrauchsfilmkontext sowie für deren Produzent:innen interessiert. Zudem war der Markt von vielen kleinen Produktionsfirmen geprägt, die oft nur wenige Jahre existierten. Dies alles hat dazu geführt, dass die archivalische Überlieferung in diesem Bereich heute sehr lückenhaft ist. Elisabeth Wilms‘ Fall ist demgegenüber aufgrund seiner lokalgeschichtlichen Relevanz für Dortmund sehr gut dokumentiert und umfasst fast alle ihre Filme sowie mehr als 2000 Papierdokumente zu deren Produktion, Zirkulation und Rezeption. In meiner Dissertation dient er deshalb als Fallbeispiel, um an ihm die historischen Schnittstellen des Amateurfilms mit dem Gebrauchsfilm aufzuzeigen und verschiedene Produktions- und Rezeptionskontexte und -Praktiken zu beleuchten.
Nicht zuletzt geht es mir auch darum, die Rolle von Amateur- und Gebrauchsfilm in der Erinnerungskultur nachzugehen, denn Wilms‘ Aufnahmen der Dortmunder Trümmerlandschaft haben im Laufe der Jahre und Jahrzehnte nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs ihren Weg in Schulen, zu Gedenkveranstaltungen, auf Filmfestivals sowie in nationale und internationale Fernsehproduktionen gefunden und prägen damit unser Bild von der Nachkriegszeit in Deutschland.
Alexander Stark
Lesen Sie hier einen Auszug aus dem Buch Die «filmende Bäckersfrau» Elisabeth Wilms
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