oder: Alienität und Alterität
Lawrence pustet ein Streichholz aus. Schnitt. Die purpurrote Sonne über der arabischen Wüste, die langsam hinter dem Horizont emporsteigt und deren Licht sich wie ein Film aus flüssigem Gold über dem Wüstensand ergießt. Ein revolutionärer Filmmoment, an den sich gewiss jeder erinnern wird, der ihn einmal auf der Leinwand erleben durfte. Ohne jeden Zweifel: David Leans Bilder entfesseln eine Eindrücklichkeit, die mit Worten nur schwer zu fassen ist: Die flimmernden Rot-Orange-Töne auf der Leinwand lassen den Kinosaal zu einem lebenswidrigen Schmelztiegel werden, in dem auch Menschenrechte unter der arabischen Sonne förmlich verglühen. Die in Eis erstarrte Romantik der russischen Einöde macht Zuschauer wie Hauptfigur unfähig, sich zwischen Krieg und Frieden zu entscheiden. Und die tosende Sprengung einer Brücke, um deren Erbauung im Film rund 160 Minuten gekämpft wurde, hinterlässt auch bei uns einen emotionalen Trümmerhaufen, ohne eine wahrhaftige Identifikationsfigur, geschweige denn einen Helden. Leans Bilder entwickeln ihre Sprengkraft, für die manchmal selbst die Cinemascope-Leinwand zu klein zu sein scheint, vor allem über ihre Geschichten; ihre Geschichten von Menschen, die von Idealen getrieben und der Hoffnung besessen sind, in der Fremde eine Heimat zu finden und die Welt dadurch zu einer besseren zu machen.
Ich erinnere mich noch gut daran, als ich Lawrence of Arabia (1962) das erste Mal auf dem alten Röhrenfernseher im Wohnzimmer meiner Eltern schaute. Damals hatte ich keine Ahnung davon, dass David Lean bis heute als einer der berühmtesten Regisseure Hollywoods gilt; ich wusste nichts von Kameraeinstellungen, Raumsemantiken oder den historischen Hintergründen des arabischen Aufstandes. Dennoch fesselten mich seine Bilder, mich faszinierte Lawrences Geschichte, sein Mut, seine Unvoreingenommenheit gegenüber einer anderen Kultur und am Ende entsetzte mich sein tragisches Schicksal, mit dem etwa all dieser Mut umsonst gewesen sein sollte?
‚Nur‘ Unterhaltungskunst?
Dass es Leans Hauptfiguren aus The Bridge on the River Kwai (1957), Dr. Zhivago (1965) und A Passage to India (1984) ähnlich ergeht, fand ich erst viele Jahre später heraus. Genau so stellte ich auch erst viele Jahre später fest, dass derartige Historienfilme und Monumentalepen, wie David Lean sie schuf, einer Hollywood-Epoche zugerechnet werden, die gemeinhin als verstaubt und rückwärtsgewandt gilt. Die Achtung vor der Popularität dieser Filme gebietet es zwar, ihren Schauwert, ihren Produktionsaufwand oder zumindest die schauspielerische Leistung dahinter zu bewundern; von einem Publikum, das sich für intellektuell tiefgründig und wissenschaftlich ambitioniert hält, werden Leans Filme allerdings eher in der Schublade für Unterhaltungskunst aufbewahrt. Und in der Tat: Die Stoffe und Konflikte, mit denen Lean sich beschäftigt, gehören allesamt der historischen Vergangenheit an. In einer Zeit, in der Gesellschaften immer häufiger über die Konstruiertheit von Selbst- und Fremdbildern nachdenken, kulturelle Grenzen zur Disposition gestellt werden und Geschichtsschreibung (auch) als ein Machtinstrument zur Sicherung von Einfluss und Legitimation von Ungleichheit verstanden wird, scheint die Message von Leans Filmen nicht mehr so recht zu passen. Beinahe lächerlich erscheint uns aus heutiger Perspektive die schlechte Maskerade von Alec Guinness, der klischeehaft in die Rolle eines an Karma und Wiedergeburt glaubenden Inders schlüpft; beinahe kulturfaschistisch wirkt das Bild, das Lean von der clownesken Unbeholfenheit des japanischen Militärs oder der unhinterfragten und fatalistischen Gerechtigkeitsvorstellung der Araber zeichnet. Getreu dem Motto „Die Hölle, das sind immer die Anderen“ geben bei Lean am Ende die Sieger der Geschichte den Ton an. Diese Sieger sind zumeist weiße britische Männer, selbstsüchtige Generäle oder machthungrige Politiker. An dem Versuch, gegen diese Sieger ihre Stimme zu erheben, gehen die Hauptfiguren allesamt zu Grunde.
Auf den ersten Blick zumindest.
Ich aber wollte mich mit dem zweiten Blick beschäftigen. Sind Leans Filme nicht mehr als die ernüchternde Erkenntnis, dass sich das große Rad der Geschichte am Ende doch nicht aufhalten lässt? Ohne bereits zu viel verraten, kann ich sagen: Bei Weitem nicht. Anstatt die Grenzen, um die in Leans Filmen so spektakulär und farbgewaltig gestritten wird, als feste und starre Gebilde zu verstehen, geben Leans Filme zu bedenken: Jede Grenze, die Teil eines mehr oder minder geschlossenen Weltbildes ist, ist ein modellhaftes Konstrukt, das rhetorisch oder politisch instrumentalisiert werden kann. Lean nimmt dabei auch sich selbst und seine Filme nicht aus der Schusslinie. Subtil und selbstironisch führt er die in seinen Filmen mühsam und unter viel Blutvergießen gezogenen Grenzen als labile und lebensfremde Kopfgeburten vor, neben denen die Hirngespinste seiner Hauptfiguren – ironischerweise – um einiges realitätsnäher wirken. Er macht sich lustig über die Figuren, die glauben, ihr eigenes Weltbild sei das einzig wahre und dazu in der Lage, alle Zeiten zu überdauern. Denn am Ende geht bei Lean doch jede Ideologie und jeder Herrschaftsanspruch sang- und klanglos unter, weil er – schaut man mit dem Blick aus Leans Gegenwart – am Ende doch wieder der Vergangenheit angehört.
Filme als Spiegel der Gesellschaft
David Leans Geschichten sind damit in der Schublade für (gute!)
Unterhaltungskunst mindestens genauso gut aufgehoben wie in der für
anspruchsvolle, kritische und vor allem zeitlose Ideengeschichte. Und mehr noch:
Mit ihren Themen sind sie aktueller denn je. Der Kampf um kulturelle Identität
und die Frage, wie sich Gesellschaften zu anderen positionieren, andere Kulturen
als fremd (Alienität) oder eben nicht fremd (Alterität) wahrnehmen, treffen so sehr den Puls unserer Zeit, dass selbst ich, die sich nunmehr rund 5 Jahre mit seinen Filmen beschäftigt hat, am Ende immer noch staunen muss: über die gleichzeitig subversive wie unerhört kolossale Sprengkraft, die Leans Filme nicht nur für das Hollywoodkino seinerzeit, sondern auch für die heutige Zeit haben. Mit Lawrences kindisch trotziger Rebellion (Nothing is written) oder Fieldings Augurenlächeln auf die Engstirnigkeit seiner Mitmenschen (Might the whole thing have been an hallucination?) stellt auch Lean ein Menschenbild auf den Prüfstand, das in der Manier eines bornierten Kolonialherren den Fremden immer zum Feind erklärt. Leans Filme halten uns einen Spiegel vor, in dem wir – wenn wir denn wollen – erkennen, wohin uns als Gesellschaft, aber auch als Menschen Grenzziehungen führen, bei denen das Individuum hinter dem rhetorischen und politischen Schauwert der Grenze zurücktritt.
Wenn Sie also bei Ihrem nächsten cineastischen Smalltalk David Leans Filme als vielerorts unterschätztes Beispiel für einen geschichtsrelativistischen Blick auf kulturelle Fremdsetzungsmechanismen anführen, werden Sie wahrscheinlich in erstaunte Gesichter blicken. Jedenfalls geht es mir immer so. Was ich damit sagen will: Der zweite Blick auf Leans Filme lohnt sich. Denn hinter ihrer verstaubten Verkleidung als kommerzielle Historienepen steckt nicht nur ein leidenschaftlicher Aufruf zur Menschlichkeit und Toleranz, sondern auch das Handwerkszeug, unser westlich-europäisches Geschichtsbild neu zu überdenken und hinter dem Fremden – ob im Großen oder im Kleinen – einen Gleichgesinnten zu sehen.
Sarah Brauckmann
Schreibe einen Kommentar