Sassan Niasseri über die Fantasy- und Sci-Fi-Filme, die seine Kindheit prägten

Meine Kindheit endete nicht mit dem ersten Kuss. Sie endete viel früher, mit 10 Jahren. Schuld daran war Chuck Norris.

Jeder, der in den 1980er-Jahren wissen wollte, was in den kommenden zwölf Monaten in die Kinos kommt, griff zum «Film-Jahrbuch» der Zeitschrift «Cinema». Das «Film-Jahrbuch» war meine Bibel. Sie war auch meine Kindheit. Die Umschläge dieser jährlich erschienenen Kompendien setzten sich aus verschiedenen Filmbildern zusammen. Und in den Jahren 1981 bis 1985 war meine Welt noch in Ordnung, war die Kinowelt noch in Ordnung, war meine Kindheit noch in Ordnung – weil die «Cinema»-Fotos, eine strenge Auswahl anstehender Highlights, mir bewiesen, dass es nicht Wichtigeres im Kino gibt als Fantasy-und Sci-Fi-Filme. Am wichtigsten war das Foto in der Mitte. 1981 prangte Superman auf dem Cover. 1982 Conan der Barbar. 1983 E.T. 1984 duellierten sich Luke Skywalker und Darth Vader mit ihren Lichtschwertern. 1985 gab’s das Supergirl, ein schlimmer Streifen, aber das konnte man ja nicht wissen, die Jahrbücher waren keine Bilanzen, sie waren Vorschauen auf die nächsten zwölf Monate. Heute erfahren wir nicht erst zwölf Monate, sondern schon zwei Jahre vorher, dass die Dreharbeiten zu einem neuen Dune beginnen, der dann wiederum erst vier Jahre später ins Kino kommen würde. Aber damals gab es kein Internet. Es gab nur die dicken Wälzer von «Cinema» . Und deren Redakteure fuhren mehr oder weniger auf Sicht.

Und dann kam Chuck Norris. Für 1986 erhielt nicht eine Fantasy-Figur, sondern der ehemalige Martial-Arts-Star den prominenten Platz auf dem größten Foto des Jahrbuchs. Aufgeknöpftes Jeans-Hemd, eine Uzi links, eine Uzi rechts, es könnte sein Auftritt in Delta Force gewesen sein. Ich fand es faul, mit Norris aufzumachen. Das war Action, nicht Fantasy. Mir dämmerte da was. Ich konnte es nicht in Worte fassen, heute würde ich mit viel Pathos sagen: «Die Ära der Fantasy-Filme neigte sich dem Ende zu». Und die «Cinema» hatte darauf reagiert, mit Chuck Norris. Das war nicht mehr mein Kino. Ich war erledigt, mit zehn Jahren schon.

Der Anfang vom Ende: Chuck Norris in Delta Force, 1986 (© Yoni S. Hamenahem)
Das Ende der Fantasy-Ära – das Ende einer Kindheit

1986 zog vorüber. Aber das 1987er-Buch war genauso schlimm. James Bond vorne drauf. Mit Bond machte man nur auf, wenn einem sonst nichts mehr einfällt – Bond-Filme gab’s damals im Zweijahres-Rhythmus. 1988 wollte ich mir schon kein Jahrbuch mehr kaufen, ich tat es trotzdem. Ich hörte aber auf zu zählen, und irgendwann hörte ich auf zu warten, zu warten auf gute Filme. Fantasy war durch. 1986 hatte die Welt verändert.

In meinem Buch A Lifetime Full of Fantasy: Das Phantastische Kino – Aufstieg, Fall und Comeback arbeite ich auch meine Kindheit auf. Sie bestand nicht aus Tiefschlägen, vielmehr drehte sie sich in großen Teilen um eine einzigartige Ära. Nie zuvor war Kino besser, nie danach war Kino besser. Von 1977 bis 1986 waren es Sci-Fi-, Fantasy- und «Sword and Sorcery»-Filme, die Hollywood regierten. Sie bekamen keine wichtigen Oscars, aber sie machten die Einspielergebnisse unter sich aus. Es begann mit Star Wars (obwohl der Hai in Der weiße Hai 1975 auch schon eine Fabelfigur war), und endete mit Ridley Scotts Legende – ein derart heftiger Flop, dass die Studios das Vertrauen in Fantasy-Erzählungen verloren. Fantasy wurde zum ‹F-Wort›, das keiner mehr in den Mund nehmen mochte.

Ich hatte Glück. Ich danke meinen Eltern für ihr Timing. Ich wurde im besten, oder sagen wir: günstigsten Jahr der 1970er-Jahre geboren. 1975. Wer 1975 geboren wurde, war 1981 sechs Jahre alt. Indiana Jones kam ins Kino. König Artus zog Excalibur aus dem Stein und der Drachentöter in den Kampf gegen die Flugechse. Mit sechs kommt man in die Schule, und es macht einen gewaltigen Unterschied aus, ob man die Freuden und Traumata, die ein Film verursacht, für sich behalten muss, oder ob man sich mit vielen neuen Schulfreunden darüber austauschen kann. Eltern kamen dafür nicht infrage.

In der Schule gibt es mehr Kinder als im Kindergarten, und man ist mit sechs Jahren schon recht gut darin, sich auszudrücken, für viele andere zum Erzähler zu werden – und jung genug, um Kino-Barbaren, Trolle und Magier auf sich einwirken zu lassen. Ja, ich durfte all solche Sachen damals schon sehen. Ich kam mühelos in unser Kleinstadt-Kino rein, und meine Mutter ließ mich ziehen. Kein Fehler, wie ich heute finde. Kein Zeichen von Vernachlässigung. Sonst gäbe es dieses Buch nicht. Ich habe es ja nicht als Akademiker geschrieben. Sondern als Fan, der die Vergangenheit noch lange nicht verdaut hat.

Fantasy-Boom in den 2000er-Jahren

Fantasy und «Sword and Sorcery» kamen um die Jahrtausendwende zurück, mit aller Macht. Die Nullerjahre wurden an den Kassen vom Herrn der Ringe und von Harry Potter beherrscht, und ab den Zehnerjahren wurde Game of Thrones zum bestimmenden Fantasy-Phänomen – eine Fernseh-Serie wohlgemerkt, kein Film auf der großen Leinwand. Zu beiden Filmreihen, wie auch zur Serie, gibt es einige Bücher. Aber vor ein paar Jahren fiel mir auf, dass es bestimmte Bücher noch nicht gibt. Solche, die die alten Vorbilder ehren. Jene Filme, die ab den späten 1970er-Jahren ins Kino kamen und derart wild aussahen, dass sie es nicht nur auf die Umschläge der «Film-Jahrbücher» von «Cinema» schafften.

Einige der besten Regisseure ihrer Generation – das wird heute gerne verdrängt, manchmal auch von den Regisseuren selbst – probierten sich am Fantasy- und Sci-Fi-Genre. John Milius, John Boorman, Ridley Scott, Jim Henson, Wolfgang Petersen, Ron Howard, David Lynch. Einige brillierten, viele scheiterten. Aber ohne die Pionierarbeiten dieser Leute gäbe es heute auch keinen Herrn der Ringe und keinen Harry Potter. Ich habe das Gefühl, dass das viel zu wenigen Menschen klar ist. Ich will diese alten Filme ehren. Und ich will mit meinem Buch aufzeigen, was die heutigen Filme und Serien diesen alten Schinken verdanken. David Bennent, der in Legende einen Waldelf spielt, sagte für ein Interview sofort zu. Tami Stronach, die ‹Kindliche Kaiserin› aus der Unendlichen Geschichte, auch. Regisseur John Carpenter sagte für ein Gespräch über Big Trouble In Little China auch zu, aber ihm musste ich erst erklären, dass «Sword and Sorcery» ein Genre ist.

CGI-Spektakel: Der Drache Drogon aus Game of Thrones, 2011

Es ging mir in A Lifetime Full of Fantasy auch nicht allein um Nostalgie. Ich finde, dass viele dieser alten Filme samt ihrer Effekte – den Ritt auf dem Unendliche Geschichte-Glücksdrachen Fuchur nehme ich aus – gut gealtert sind. Mich beeindruckt der Drache Vermithrax von 1981 mehr als Drogon aus dem Jahr 2011. Ob ein Kino-Drache gut gemacht ist, hängt nicht davon ab, ob man die Glühlampen hinter seinen feurigen Augen entdeckt. Ein Kino-Drache ist dann gut gemacht, wenn er Charakter hat, wenn die Story gut ist. Das heutige ‹Goldene Fernsehzeitalter› haut ein Fabelwesen nach dem anderem im Streaming raus. Die meisten davon können mir gestohlen bleiben. Sie sehen alle gleich aus, und nach einer Staffel geht den Autoren eh die Puste aus.

«The dreams of youth are the regrets of maturity»

Nicht alle Erwachsenen haben Lust, über die Grenzen der Spezialeffekte der 1980er-Jahre hinwegzusehen. Ihr Misstrauen haben sie sich über viele Jahre antrainiert. Sie suchen nach Fehlern. Kinder aber nehmen diese Grenzen, diese vermeintlichen Fehler, gar nicht wahr. Für Kinder gibt es keine ‹schlecht gealterten Effekte›, weil sie keine Vergleichsmaßstäbe haben, sie sind zu jung, um technische Fortschritte zu sehen. Wer erst als Erwachsener zum ersten Mal Conan der Barbar von 1982 sieht, tut mir leid. Ich kann aber auch verstehen, dass der Erwachsene Conan als Poseur enttarnen will – denn so schwer kann das (Film-)Schwert, das der Krieger hebt, nun auch wieder nicht sein.

Ich habe dem Buch ein Zitat vorangestellt, eines, das mir am liebsten ist. Erdacht hat es der Autor Williams Hjortsberg, er schrieb das Drehbuch zu Legende. Darin hat der leibhaftige Teufel eine Prinzessin gefangengenommen, er sagt zu ihr: «The dreams of youth are the regrets of maturity». Er sagt es so nüchtern, als spreche er von einem Naturgesetz. Dann fügt er an: «Dreams are my speciality. Through dreams I influence mankind.» Dieser Herr der Finsternis behauptet also, dass er jungen Menschen Flausen in den Kopf setzt. Sie jagen Träumen hinterher, die unerreichbar sind. Als Erwachsene fühlen sie sich dann wie gescheitert am Leben.

Ich glaube, der Teufel hat ein wenig Recht. Zumindest, was bestimmte Träume angeht. Um Berufswünsche geht es eher nicht. Popstar zu werden ist schwer, aber dieser Traum entspringt nicht dem Fantastischen. Das ‹Bedauern›, von dem der Herr der Finsternis spricht, bezieht sich auf die viel zu späte Erkenntnis des ehemaligen Kindes, dass es die Welt, in der Teufel in Schlössern leben, die Welt, die ihn für die Länge eines Films in den Bann gezogen hat, genauso wenig gibt wie die Welt, in der Atréju lebt oder König Artus. ‹Regret›: Mit zunehmendem Alter wächst das Bedauern über den Verlust, in irrealen Welten aufgehen zu können, immer mehr.

Es gibt erwachsene Menschen, über die man sagt, sie hätten sich für ihre kreative Arbeit den ‹Blick des Kindes› bewahrt, vielmehr noch, sie können in ihrer Arbeit wieder Kind sein. Steven Spielberg zum Beispiel. Ich halte das zwar für Unsinn – Spielbergs Filme sind ‹nur› sehr spitze Nachempfindungen der ihm nicht mehr zugänglichen Weltwahrnehmung eines Kindes, für das um jede Ecke ein neues Wunder lauert. Und auch Fanboys wie ich stoßen an ihre Grenzen.

Deshalb hat mich die Arbeit an meinem Buch zwar etwas traurig gemacht – es ist mir beim Schreiben nicht gelungen, mich Legende, dem Dunklen Kristall oder Krull ganz so nahe zu fühlen wie mit Zehn. Aber die Freude hat doch obsiegt. Ich konnte meinem jüngeren Ich zusichern, dass es richtig war, auf diese Filme zu setzen. Ich kann auch in meinem Job als Redakteur noch immer über solche Filme schreiben, etwas Besseres gibt es für mich nicht. Was die Filme mir nicht nur als Journalist, sondern auch als Fan bedeuten, steht erstmals in diesem Buch. Ich schrieb alles auf, und an Chuck Norris habe ich dabei kein einziges Mal gedacht.

Sassan Niasseri

Mehr über Fantasy-Filme gibt es hier zu lesen.

Sassan Niasseri betreibt gemeinsam mit seinem ROLLING-STONE-Redaktionskollegen Arne Willander den Podcast „Freiwillige Filmkontrolle“. Darin geht es natürlich nicht nur um Fantasy-Filme, aber doch um einige. Hier können Sie ihn abonnieren.