Regisseur *1.11.1932

Als Filmliebhaber stößt man in internationalen Kritikerlisten oft auf einen Regisseur namens Edgar Reitz, dessen Werk Heimat (1984) zwischen den besten Filmen aller Zeiten auftaucht. Wer ist dieser Mann, der zwei der einschaltstärksten Straßenfeger der deutschen Fernsehgeschichte drehte, dafür in Venedig und England Filmpreise erhielt, ganz nebenbei die deutsche Gesellschaft nachhaltig prägte – und warum hat eine ganze Generation junger Filmliebhaber noch nie von ihm gehört?

Edgar Reitz und sein langjähriger Kameramann Gernot Noll
Edgar Reitz (r.) und sein langjähriger Kameramann Gernot Noll: Dreharbeiten zu Die andere Heimat (2013), © Concorde

Edgar Reitz wurde vor 90 Jahren im Hunsrück geboren, einem Mittelgebirge tief in Westdeutschland. Er war ein Unterzeichner des Oberhausener Manifests, Weggefährte von Autorenfilmern wie Wenders, Herzog und Fassbinder. Dabei war Reitz nicht wie diese unter den ersten Filmstudenten, sondern eher auf Lehrerseite: Er kam aus dem Dokumentar- und Experimentalfilm, arbeitete mit dem ähnlich interessierten Alexander Kluge zusammen, unterrichtete Regie und Kameratheorie und gründete seine eigene Produktionsfirma.

Heimat – eine Revolution der deutschen Fernsehgeschichte

Aber während das Neue Deutsche Kino international Furore machte, schien Reitz’ Filmkarriere zu Ende, bevor sie richtig begonnen hatte. Nachdem sein Debüt Mahlzeiten (1967) in Venedig ausgezeichnet wurde und seine Dokumentarfilme viel Lob ernteten, bescherte ihm ironischerweise sein aufwendiger Historienfilm Der Schneider von Ulm (1978), über einen idealistischen, aber unglücklichen Flugpionier im frühen 19. Jahrhundert, eine schlimme Bruchlandung. Und so ging Reitz dahin, wo noch nie ein deutscher Autorenfilmer zuvor gewesen war: ins Fernsehen. Und ausgerechnet in diesem so traditionellen Medium startete er 1984 eine Revolution – mit einem 15-stündigen, experimentellen, intellektuellen Film-Epos.

Es ist nicht einfach, die Bedeutung und Wirkung zu erklären, die Heimat – Eine deutsche Chronik für die deutsche Gesellschaft hatte. Wie die Miniserie Holocaust (1978) bei der deutschen Erstausstrahlung fünf Jahre zuvor prägte auch Heimat das Selbstbild der Bundesrepublik. Heimat war einer der größten Quotenrekorde der Fernsehgeschichte, aber wirklich revolutionär war der irrwitzige Ehrgeiz: Es war die Geschichte des fiktiven Dorfs Schabbach im Hunsrück zwischen 1919 und 1982. Auswanderer, Bauern, Soldaten, Ingenieure, Künstler, Industrielle, Händler; der Erste Weltkrieg, die Weimarer Republik, die Nazi-Zeit, der Krieg, das Wirtschaftswunder, die sexuelle Revolution… aus jungen Menschen werden alte, aus Idealisten werden Zyniker, aus Helden werden Bösewichte und manchmal wieder Helden. Heimat zeigte nicht eine Generation, sondern ganze Lebensläufe.

Wer dieses Meisterwerk gesehen hat, wird verstehen, warum Reitz nie wieder davon loskam. Erst übertraf er sich 1992 mit der 25-stündigen Zweiten Heimat nochmal selbst, einem Panoptikum der 60er-Jahre in München und dem letzten großen Straßenfeger der deutschen Fernsehgeschichte, vor dem Durchbruch des Privatfernsehens. Heimat 3 kehrte dann 2004 für 11 Stunden in den Hunsrück zurück und erzählte die Jahre der deutschen Wiedervereinigung bis zur Jahrtausendwende – aber leider war die Zeit des Fernsehens als gesellschaftliches Ereignis vorbei.

Rückkehr zur Lehre

Also kehrte Reitz zu seiner Leidenschaft zurück, der Theorie und Lehre. Er veröffentlichte Bücher, gründete ein international renommiertes Kino-Institut und unterrichtete als Professor an der Filmschule. Aber er konnte nie lange von der Heimat lassen. Nach einem Epilog in Form von bisher unveröffentlichten Fragmenten kehrte Reitz 2013 noch einmal triumphal mit dem vierstündigen Auswanderer-Epos Die andere Heimat zurück, in dem er herzzerreißend die Auswanderungswelle aus dem Hunsrück nach Südamerika in den 1840ern zeigt.

In den letzten Jahren genießt Reitz die verdienten Lorbeeren für sein Lebenswerk: Ehrendoktorwürden, Bundesverdienstkreuz, Deutscher Filmpreis für seine «herausragende Verdienste um den Deutschen Film». Aber selbst als Neunzigjähriger bleibt er als Produzent aktiv und ruhelos – und wer weiß, ob er nicht noch ein letztes Mal in seine Heimat zurückkehrt.

Daniel Bickermann

Folgende Bücher von Edgar Reitz haben wir derzeit im Programm:

Dieser Beitrag stammt aus dem Filmkalender 2022. Auch der Kalender für 2023 enthält Portraits von Filmschaffenden und spannende Textbeiträge.