Zur Ästhetik des kolorierten Bildes im Kino 1895-1930

Vor ungefähr fünfzehn Jahren flimmerten die Farben der kolorierten Stummfilme das erste Mal vor meinen Augen auf: in Alfred Machins kurzem Film über einen Landstreicher, der Windmühlen leuchtend farbig in Brand setzt, oder als bunter Regenbogen auf den Frauenkleidern in Serpentinentanzfilmen. Ich habe zu viele Jahre seither damit verbracht, diese Filme zu studieren, als dass ich mir heute noch das damalige Gefühl des Staunens genau und in der einstigen Intensität vergegenwärtigen könnte. Ich weiss dennoch, dass der Anblick von Bildern noch selten ein vergleichbares Wundern bei mir erwecken konnte wie damals. Dabei liebe ich es, wenn es geschieht – plötzlich etwas zu entdecken, was mich eine nicht erkundete Welt erahnen lässt.

Bespiel für eine Kolorierung: Le Voyage à travers l’impossible (Georges Méliès, F 1904), Farbe nivelliert den Übergang zwischen dem menschlichen Gesicht und den Sonnenstrahlen

Die Filme der vergangenen Jahrzehnte erscheinen durch ihre zeitliche Entfernung und durch die damit verbundenen visuellen und akustischen Eigentümlichkeiten häufig in eine atmosphärische Patina gehüllt. Die Stummfilme haben für mich dennoch etwas Besonders, betont Fremdes. Es ist, als würden sie einen Blick in das Verborgene, fast wie in eine tiefe, schlummernde Schicht unserer kulturellen Erinnerung gewähren. In diesem, mit einem Hauch des Mysteriums getränkten Bereich der Kinogeschichte habe ich die wunderlichsten Filmfarben entdeckt. Manche wurden mit der Hand auf das schwarzweiße Material aufgetragen (was mich besonders fasziniert), andere sind durch das Behandeln der Streifen in den Farbbädern des Kopierwerks entstanden. Die meisten Leute wunderten sich, als ich ihnen sagte, ich würde meine Doktorarbeit über die Farbe im Stummfilm schreiben. Für die Mehrheit war es völlig unbekannt, dass das Kino jener Zeit farbig war. Ihr Wundern war berechtigt, denn man kannte diese Farben kaum. Die Filmarchive hatten lange Zeit die farbigen Stummfilme auf schwarzweißes Material umkopiert, meistens aus finanziellen oder aber praktischen Gründen (der schwarzweiße Film zeigte sich widerstandsfähiger gegen den zeitbedingten Materialverfall).

Für mich war die Erkenntnis über das farbige Kino der Anfänge mit jener vergleichbar, dass die weißen griechischen und römischen Marmorskulpturen eigentlich bunt bemalt waren. Dabei fußte vieles im westlichen ästhetischen Denken auf der Würdigung des edlen Weiß der Antike. Nicht zuletzt lieferte die Vorstellung vom weißen Marmor eine stete und hartnäckige Wertebasis dafür, die bunte Farbigkeit als vulgär zu empfinden und zu verurteilen. Sie trug bedeutend dazu bei, eine Ästhetik des Erhabenen zu etablieren, in der alles betont Sinnliche als trivial und minderwertig galt. Unlängst fragte auch die Autorin eines längeren Artikels im Magazin The New Yorker, warum sich dieses Glaubenwollen an den Mythos weißer Skulpturen auch weiterhin so hartnäckig zeige. Früher oder später müsste man sich vielleicht auch fragen, wie denn eine westliche Ästhetikgeschichte aussähe, wenn dieser Irrtum früher berichtigt worden wäre.

Ich wollte das Gleiche mit Blick auf den Film fragen. Dass das Unterfangen nicht überholt war, bekam ich bereits bei einem ersten Interview für ein Stipendium in Köln bestätigt, als man mir nicht glauben wollte, dass Stummfilme farbig gewesen seien (warum man mich überhaupt mit dem Proposal zum Thema in die zweite Bewerbungsrunde eingeladen hatte, sei dahingestellt). Bei einem anderen Gespräch, diesmal in Zürich, saß mir dann zum Glück ein Filmhistoriker gegenüber und ich durfte mit meiner Arbeit anfangen. Wie sähe die Geschichte der farbigen Moderne des frühen 20. Jahrhunderts aus, wenn man diese nicht, wie üblich, ausgehend von der Malerei schreiben würde, sondern von der Perspektive des dominanten Mediums des 20. Jahrhundert aus – also vom Film? Im letzten Kapitel meines Buches münden meine Analysen zu dieser Frage unter anderem auch in der Erkenntnis, dass die so bezeichneten künstlerischen Bildparadigmen der Epoche eigentlich schon früher im Film erprobt wurden – das bedeutendste unter ihnen ist wohl die autonome farbige Bildfläche. In diesem Sinne zeige ich, dass etwa Malewitsch oder Rodtschenko, als sie in der Malerei Rechtecke monochrom bemalten, dem Kino bereits hinterherhinkten. Das medienreflexive Moment der selbstbezüglichen Farbe einbeziehend, zeigt sich, dass im Kino zusätzlich auch die Attraktionen des Spektakels, des Spiels, der Magie, der Verführung mitschwingen. Die Filme bedienten so die Schaulust breiter gesellschaftlicher Schichten. Denn so wie in anderen Bereichen dieser historischen Umbruchszeit, ist das eigentliche Subjekt und das Publikum der chromatischen Moderne sie: die Masse. Und diese verlangte, dass das Kino farbig sei – oder aber noch farbig werde, so wie wir es heute kennen.


Jelena Rakin

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