Martin Jehle über die Faszination für das Ungeschnittene

Meine ersten Kurzfilme habe ich gedreht, als ich noch zur Schule ging. Viel von dem, was ich für die Filmpraxis benötigte, habe ich mir damals durch Filmbücher beigebracht. Neben filmpraktischen Ratgebern und Büchern zur Filmgeschichte habe ich zu dieser Zeit einiges über Stanley Kubrick gelesen, der kurz zuvor seinen letzten Film Eyes wide shut fertiggestellt hatte und dann gestorben war. Sein Diktum, dass er nur dann schneide, wenn es notwendig sei, hat mich schon früh bei meiner Suche nach einer eigenen Filmsprache angeleitet. Wofür und wann war klassische Bildmontage denn überhaupt notwendig? Die Frage, wie lange ich einen Schnitt vermeiden oder zumindest hinauszögern kann, hat mich seitdem bei jedem neuen Filmprojekt begleitet. Mit dem Film Mein Letztes Band (2006) habe ich mich an diversen Filmhochschulen und letztlich erfolgreich an der Stiftung Universität Hildesheim beworben.

Martin Jehle: Mein letztes Band (2006)
Experimente mit dem Ungeschnittenen

Einen ganzen Film ohne Schnitt zu inszenieren hat damals schon viel Spaß gemacht. Außerdem konnte ich dabei die Ästhetik des Ungeschnittenen erforschen und einiges über die Logistik und die Ökonomie der Sequenzeinstellung herausfinden. Während meines Studiums der Szenischen Künste in Hildesheim ergaben sich immer wieder neue Möglichkeiten, mit filmsprachlichen Mitteln zu experimentieren und diese Experimente theoretisch zu reflektieren. Kopf (2008) war zunächst ebenfalls ohne einen Bildschnitt konzipiert, weil aber auf 16mm gedreht werden sollte und weil Zeitlupen wichtig für die Gestaltung waren, hatten wir für eine einzige ungeschnittene Aufnahme nicht genug Material pro Filmrolle zur Verfügung – ein ziemlich überzeugender technischer Grund für den (allerdings sehr zurückhaltenden) Einsatz von Montage.

Martin Jehle: Kopf (2008)

Im Zuge des Hildesheimer Studienmodells, das auf eine Interdependenz von Theorie und Praxis setzt, kam ich noch einmal ganz neu mit Filmwissenschaft in Berührung und konnte meine Erforschung der ungeschnittenen Einstellung intensivieren. Nach meiner Diplomarbeit über temporale Phänomene in den Filmen des sowjetrussischen Regisseurs Andrej Tarkowskij wurde ich von Professorin Stefanie Diekmann gefragt, ob ich mir auch eine filmwissenschaftliche Promotion vorstellen könne. Ihrem Gespür für meine Interessen ist das Thema meiner Dissertation zu verdanken, eine Untersuchung des Ungeschnittenen im narrativen Kinofilm. Ohne diesen Impuls würde das nun vorliegende Buch nicht existieren – und ohne meine filmwissenschaftliche Beschäftigung wären auch Filme wie Anna (2016) nicht auf die gleiche Weise entstanden, den ich während der Recherchephase für das Buchprojekt fertiggestellt habe.

Martin Jehle: ANNA (2016)
Das Ungeschnittene als Faszination

Das nun erschienene Buch Ungeschnitten – Zu Geschichte, Ästhetik und Theorie der Sequenzeinstellung im narrativen Kino arbeitet ganz nah am Material, geht von bekannten und weniger bekannten Sequenzen aus allen Jahrzehnten der Filmgeschichte aus, und greift dabei indirekt auch auf meine Erfahrungen mit der Produktion von ungeschnittenen Einstellungen zurück. Auch der Faszination für das Ungeschnittene sind mehrere Teilkapitel gewidmet. Diese Faszination kann durchaus auch nerven: Filmemacher werden anhand besonders spektakulärer Sequenzen zu Genies verklärt, Filmkritiker beschreiben die einschlägigen Szenen als weitaus länger und komplexer, als sie es tatsächlich sind, und insgesamt scheint die Produktion und Rezeption ungeschnittener Einstellungen (bis auf wenige Ausnahmen, etwa die Filmemacherin Chantal Akerman) ein ausgesprochen maskulin konnotierter Wettbewerb um Größe und vor allem Länge zu sein.

Zugleich aber ist die ungeschnittene Einstellung eine filmische Form, die filmästhetische Aspekte bündelt und filmtheoretisch relevante Diskurse um Parameter wie Teamwork, Ko-Präsenz, Kontinuität, Simultaneität und Dauer maximal verdichtet. Gegenwärtig erhalten diese Begriffe spezifische Relevanz durch jene Kinoproduktionen, die das Potential der digital hergestellten, ungeschnittenen Einstellung ausloten (durchaus emblematisch und daher auf dem Cover des Buches: Gravity 2013), sowie durch die vergleichsweise neuen Schauplätze der ungeschnittenen Einstellung jenseits des klassischen Kinodispositivs, etwa in Computerspielen und Virtual Reality. Gerade durch diese ausgesprochen aktuellen Tendenzen und zukunftsweisenden Technologien werden sich auch in Zukunft immer wieder Gelegenheiten bieten, das Potential des ungeschnittenen Bewegtbildes mit praktischen und wissenschaftlichen Mitteln zu erforschen.

Martin Jehle

Mehr über die Sequenzeinstellung im narrativen Kino gibt es hier zu lesen.