13. 8. 1971

Moritz wird 50, Digga. Vom Uhlenbusch bis Hollywood und kein bisschen leise. Okay, wirklich überrascht hat seine Berufswahl Niemanden. Als Spross einer Künstler- und Schauspielerfamilie lagen die schönen Künste nahe, doch ist der Stil, den er in seiner Profession an den Tag legt, einzigartig. «Kiez-Method-Acting», «Kleinbürgerliches Powerspiel», «Hanseatischer Realismus»? Die Nachwelt wird eine Bezeichnung für die Methode Bleibtreu finden müssen.

Nach Lehrjahren auf Hamburger Bühnen kam es Anfang der 1990er zum unvermeidlichen Sprung auf kleine und große Leinwände. TV-Auftritte neben Götz George in Schulz und Schulz oder bei Evelyn Hamann machen klar, dass dieser junge Wilde kein Geheimtipp bleiben wird. Nach achtbarem Kinoauftakt in der 90s-RomCom Stadtgespräch (als Kai Wiesingers tumber Lover) folgt 1997 der Durchbruch im Schweiger-macht-auf-Tarantino-Fegefeuer Knockin’ on Heaven’s Door, in der er den krassen Araber Abdul gibt («Soll isch dein Gehirn pusten, oder was?»). Es soll nicht die letzte Rolle bleiben, in der er verschiedene Ethnien und Nationalitäten ohne Angst vorm Klischee darbietet. Egal ob er bei Dauerkollaborateur Fatih Akin gerade Italiener (Solino) oder Griechen (Soul Kitchen) gibt, in Luna Papa als Usbeke auftritt oder sich in Spanier (Der Fakir), immer wieder Türken oder Palästinenser (Zeiten ändern dich) verwandelt: Menschlichkeit und Empathie überschreiben bei ihm jedoch immer jede Länder- und Völkergrenze und lassen so manches Stereotyp vergessen. Schließlich spielt er meist den coolen Kumpel, den man gern hätte. Kein Wunder, dass der Part des Stoner-Bros in Christian Züberts Lammbock nach wie vor die essenzielle Bleibtreu-Rolle ist: Ein uneitler Underdog, der um seine intellektuelle Limitierung weiß und authentisches Klassenbewusstsein demonstriert.

Eine Qualität, die die erste Garde deutscher Regisseure früh erkannte. Und nicht nur die. Performances bei Tom Tykwer (Lola rennt) und Oliver Hirschbiegel (Das Experiment) machten internationalen Eindruck. Es folgten Auftritte bei Spielberg (München), den Wachowskis (Speed Racer) oder Paul Schrader (The Walker). Dennoch behielt er die Heimatfront im Auge, wo sein stetig wachsender Publikumsappeal ihn 2008 für die Hauptrolle in Bernd Eichingers History-Entertainment-Edeltrash Der Baader Meinhof Komplex qualifizierte. Bleibtreu als Baader? Sicher Digga, was is’n das für ne scheiß-­bourgeoise Fragestellung? Radikal fehlbesetzt, doch bei bester Laune prollt sich MB als AB in Lederjacke und Rockerposen durchs Spektakel und verleiht dem pöbelnden Bürgerkind rabaukigen Glamour. Starpower eben.

Agnes und seine Brüder (D 2004, Regie Oskar Roehler)

Viel eindrucksvoller als die Ausflüge auf internationales Parkett oder in der Eichinger-Event-Walze fallen die Auftritte vor der Kamera Oskar Roehlers aus. Zwar scheint das Team Up zwischen Everybody’s Darling und Enfant Terrible auf den ersten Blick unwahrscheinlich, doch gelingt es dem leidenschaftlichen Provokateur, dem vermeintlichen Sunnyboy ein paar der besten Leistungen seiner Karriere zu entlocken. Seien es die Porträts verbitterter Frustbolzen in Agnes und seine Brüder und der verquasten Houellebecq-Adaption Elementarteilchen, das heikle, doch schwer unterhaltsame Chargieren als Joseph Goebbels im heiklen, doch schwer unterhaltsamen Jud Süß – Film ohne Gewissen oder sein Auftritt als verkrachte 68er Lebenslüge im Nachkriegsmelodram Quellen des Lebens. Jenseits der Komfortzone läuft er zu kaum geahnten Höchstleistungen auf.

Es sind rare Momente, doch zeigen sie, dass er mehr ist als der coolste Kumpel und unprätentiöse Kosmopolit des deutschen Films, sondern eben auch einer der besten deutschen Schauspieler seiner Generation. Sicher, Digga!

Robert Cherkowski

Dieser Beitrag stammt aus dem Filmkalender 2021. Auch der Kalender für 2022 enthält Portraits von Filmschaffenden und spannende Textbeiträge.