Ein Werkportrait des kanadischen Filmemachers Denis Villeneuve und seines Brückenschlags zwischen Arthouse- und Mainstreamkino

Spätestens seit seinen Science-Fiction-Erfolgen Arrival und Blade Runner 2049 ist der Kanadier Denis Villeneuve zu einer eigenen Marke im aktuellen Blockbusterkino geworden; ähnlich wie Ridley Scott oder Christopher Nolan ist er ein «auteur» im Mainstream. Sein Epos Dune ließ beim Filmfestival Venedig 2021 den Lido beben und startete am 16.9.22 in den deutschen Kinos. Anlass für ein Werkporträt.

DUNE (USA 2021), © Warner Bros.

Herbst 2013. Im Kino läuft Prisoners an, ein Thriller über eine Kindesentführung, einen verzweifelten Vater und einen schrecklich übermüdeten Detective. Eine Geschichte, die Spannung verspricht, die sicher unbequem wird – vor allem, wenn man Kinder hat – aber auch nichts, was irgendwie revolutionär oder neu klingt. Hollywood-Thriller-Standardstoff eben, wenngleich hochkarätig besetzt mit Jake Gyllenhaal, Hugh Jackman und Paul Dano. 150 Minuten dauert dieser hochgradig effektiv inszenierte Trip. Und über 150 Minuten gelingt es dem Regisseur, eine immense Spannung aufzubauen, zu fesseln, das Publikum in den Bann zu ziehen von der ersten bis zur letzten Minute, es einzuhüllen in eine düster-bedrohliche Soundkulisse und mit hineinzuziehen in menschliche Abgründe. Wer hat da Regie geführt? Denis Villeneuve. Prisoners war nicht sein erster Film, wohl aber sein erster Blockbuster. Weniger als ein Jahrzehnt später zählt der Kanadier zu den bedeutendsten Hollywood-Regisseuren, der meisterhaft die Brücke zwischen Arthouse und Mainstream schlägt und großes Kino für das Auge, den Bauch und Kopf macht.

Schon 2013 war der 1967 in Bécancour in Québec geborene Denis Villeneuve kein Nachwuchsregisseur mehr. Seine Karriere begann 1998, nach einigen dokumentarischen Arbeiten, experimentellen Kurzfilmen und Musikvideos, mit seinem Spielfilmdebüt Der 32. August auf Erden, der sogleich in der Reihe «Un Certain Regard» von Cannes gezeigt wurde. Regelrecht zerschnitten werden die Bilder zu Beginn, während ein Auto durch die dunkle Nacht rast. Die Fahrerin schläft ein, kommt von der Straße ab, verunglückt schwer. Stilistisch setzt Villeneuve mit dieser Szene ein Ausrufezeichen und beweist sein Geschick im Schaffen von Atmosphäre. Eher seltsam hingegen mutet aus heutiger Sicht auf Villeneuves Werk an, was im Film danach folgt. Eine schräge Liebesgeschichte über die Frau, die beschließt, ihr Leben zu ändern, und ihren besten Freund überredet, mit ihr ein Kind zu zeugen. Nur in der Wüste, sagt dieser. Und so beginnt eine Reise von Kanada in die Salzwüste von Salt Lake City, die sich allerdings als alles andere als der passende Ort zur Umsetzung des Plans erweist.

Jake Gyllenhall in PRISONERS (USA 2013), © Universal

Die Verknüpfung von Drama und trockenem Humor will nicht so recht glücken in diesem Film. Aber was im Gedächtnis bleibt, ist die Art und Weise, wie hier die Schauplätze in Szene gesetzt werden, von der in weiten Panoramen aufgenommenen Salzwüste, in der die Menschen wie Fremdkörper wirken, bis hin zum beinahe klaustrophobisch anmutenden futuristischen Capsule-Hotel im japanischen Stil, in dem die beiden Protagonisten letztlich landen. Etwas Surreales haben diese Szenerien, was Villeneuve auch bei seinem nächsten Film übernommen hat. In Maelström sind weise Fische auf der Schlachtbank die Erzähler – ein Kunstgriff, den man eher in den Werken von Jean-Pierre Jeunet zur damaligen Zeit vermutet hätte und der ablenkt von den menschlichen Dramen, um die es sonst in diesem multiperspektivischen und verschachtelten Film geht: um den Kreislauf von Leben und Tod, um Entscheidungen gegen das Leben und für das Leben.

Trotz positiver Kritiken zieht Villeneuve sich nach diesen beiden Filmen erst einmal aus dem Filmgeschäft zurück und legt eine nahezu zehnjährige Pause ein. Er will sich weiterentwickeln, er will sich intensiver mit Dramaturgie beschäftigen, will Filme studieren und in Zukunft nur noch Filme machen, für die er brennt.

Im Rückblick wirken Der 32. August auf Erden und Maelström wie Stilübungen. Vieles von dem, was die späteren Werke auszeichnen wird, ist hier schon angelegt: Es gibt das Gespür für die Inszenierung von Orten, die starken Frauenfiguren, die Fixierung von Blicken, die Themen Schuld und Verantwortung, den Kontrollverlust. Und immerzu nimmt Villeneuve seine Figuren absolut ernst, auch wenn die Welten, in denen sie sich bewegen, bisweilen unwirklich sind. Er urteilt nicht über sie, auch wenn sie streitbare Wege einschlagen. Vom Humor allerdings verabschiedet sich Villeneuve danach. Alle Filme, die folgen, sind in ihrem Tonfall deutlich düsterer.

Sie sehen was, was du nicht siehst

Mit dem formal strengen, manchmal dokumentarisch anmutenden Polytechnique meldet sich Villeneuve 2009 zurück. Aus dem Blickwinkel von drei Figuren erzählt er in diesem in Schwarz-weiß gedrehten Drama auf der Basis wahrer Begebenheiten von einem Amoklauf, der sich 1989 an der Polytechnischen Hochschule in Montréal ereignet hat. Die Gewalt in diesem Film ist – wie später in Sicario – schmutzig und roh, unvermittelt und schockierend. Sie wird nicht überhöht und findet einfach statt. Der Täter, dessen Perspektive ebenfalls gezeigt wird, wird dabei nicht glorifiziert, seine Motive nur rudimentär erklärt. Polytechnique ist auch die Geschichte eine mehrfachen Kontrollverlusts. Zum einen des Amokläufers, der mit Gewalt seinem Hass auf Frauen freien Lauf lässt, zum anderen aber auch der Opfer, die sich nach dem traumatischen Erlebnis erst wieder ihren Handlungsfreiraum erarbeiten, Sicherheiten wiederfinden und sich ihre Möglichkeit der Selbstbestimmung zurückerobern müssen.

DUNE (USA 2021), © Warner Bros.

Bemerkenswert ist, wie der Film zunehmend offener wird. Detailliert beobachtet er über einen langen Zeitraum den nervenzermürbenden Amoklauf und lässt aufblitzen, dass Villeneuve seine Karriere als Filmemacher mit Dokumentarfilmen begonnen hat. Aber am Ende lässt er sich nicht auf eine Rekonstruktion reduzieren, sondern erzählt ganz grundsätzlich über das Machtverhältnis von Männern und Frauen. Wie fast immer bei Villeneuve liegen die Sympathien dabei auf der Seite der Frauen. Ihnen gesteht Villeneuve Willenskraft, Stärke und Menschlichkeit zu. Die Männer hingegen sind die Zweifler, diejenigen, die an ihren Machtfantasien scheitern, die mit dem Kontrollverlust nicht umgehen können und untergehen.

So verwundert es auch nicht, dass auch in Die Frau, die singt eine Tochter und eine Mutter im Mittelpunkt stehen, wobei Villeneuve zum ersten Mal einen fremden Stoff verfilmt. Mit seiner Verkettung von Schicksalen und seinem Kernthema Schuld und Vergebung ist das auf dem Theaterstück «Incendies» von Wajdi Mouawad beruhende Drama, in dem zwei Geschwister dem letzten Willen ihrer verstorbenen Mutter folgen und sich auf die Suche nach ihrem Vater sowie ihrem bisher unbekannten Bruder machen, ganz eng verbunden mit Maelström.

BLADE RUNNER 2049 (USA 2017), © Warner Bros.

Mehr noch als je zuvor beginnt Villeneuve aber auch, sich auf die Beobachtung von Blicken zu konzentrieren – eines seiner markantesten Stilmittel. Villeneuve zeigt oft nicht (oder nicht zuerst), was geschieht, sondern wie jemand etwas wahrnimmt. Die Augen und die Blicke seiner Schauspieler erzählen, was da gerade passiert. Sie sehen, was das Publikum nicht sieht. Ebenso konsequent heftet sich die Kamera mit langen «tracking shots» oft an ihre Fersen, folgt ihnen fließend durch den Raum – und zieht das Publikum damit unweigerlich mit hinein ins Geschehen. Eine Technik, die später auch den Drogenthriller Sicario oder Blade Runner 2049 prägen wird und Villeneuves Filme so sogartig wirken lässt.

Einfache Geschichten, komplex erzählt

Immersiv wirkt auch Enemy, der auf dem Roman «Der Doppelgänger» von José Saramago beruht. Waren die anderen Filme von Villeneuve noch mehr oder weniger in der Realität verwurzelt, so sieht die Welt nun fremdartig aus. Ein unheilvoller gelber Schleier liegt über den Bildern, taucht die Skyline von Toronto in ein unwirkliches Licht (und nimmt bereits die dystopischen Stadtlandschaften von Blade Runner 2049 vorweg) und bereitet damit den Boden für eine Geschichte über einen Mann, der seinen Doppelgänger trifft. Auf die existenzielle Erschütterung folgt die Neugier: Was für ein Leben lebt dieser? Können sie die Rollen tauschen? Verliert der Protagonist damit die Kontrolle über sein Leben? Oder kann er auch die Kontrolle über ein anderes Leben übernehmen?

Im Kern geht es in Enemy um einen Mann, der sich zwischen einer Affäre und seiner Frau entscheiden muss – aber erzählt wird dies in Form eines surrealen Labyrinths mit suggestiven Bildern. Der Film macht das Innenleben und die Widersprüche des Protagonisten erfahrbar, taucht ein in seine Psyche, wodurch sich auch die Frage nach der Realität nicht mehr stellt. Aus dem Stoff hätte sich ein nüchternes Drama machen lassen. Villeneuve aber inszeniert die Geschichte so unheimlich wie möglich und konfrontiert sein Publikum mit spinnenartigen Wesen, die mit ihren langen Beinen durch die Stadt staksen oder gar plötzlich im Nebenraum stehen.

BLADE RUNNER 2049 (USA 2017), © Warner Bros.

Enemy erzählt nicht distanziert-sachlich über die Krise des Helden, sondern macht sie erfahrbar. Ähnlich funktionieren auch Prisoners und Sicario. Die Kamera rückt auch hier den Protagonisten auf den Leib, folgt ihnen in Abgründe, richtet den Blick immer wieder auf ihre Augen und in ihre Seelen. Wo sich in dem Thriller Prisoners ein Labyrinth aus Schuld und Verzweiflung auftut, taucht Sicario ins nicht minder ethisch zweifelhafte Milieu der Drogenfahnder, Geheimdienste und Söldner im Grenzstreifen zwischen Mexiko und den USA ein und bemüht sich um dokumentarischen Realismus. Eine aufrechte FBI-Agentin scheitert in diesem Sumpf aus Korruption und Gewaltexzessen an ihren moralischen Standards. Antworten oder beruhigende Auflösungen gibt es in beiden Filmen nicht – nur eine tiefe Verunsicherung.

Spätestens ab diesem Zeitpunkt rückt die Rolle der Bildgestaltung und des Scores mehr in den Vordergrund – auch, weil Villeneuve sich mehr für die Ideen aus seinem Team öffnet und nicht mehr wie zuvor alles alleine bestimmen will. Die atmosphärisch dichten, zugleich vielschichtig und reduzierten Scores von Johán Johánnson färben Prisoners, Sicario und Arrival ein – auch bei Blade Runner 2049 ist er zunächst als Komponist eingeplant, wird aber letztlich durch Hans Zimmer und Benjamin Walfisch ersetzt –, als Bildgestalter bestimmt Roger Deakins maßgeblich den Look von Prisoners, Sicario und Blade Runner 2049. Bekannt ist, wie akribisch Villeneuve im Vorfeld mit Storyboards arbeitet und die Auflösung des Drehbuchs exakt plant.

In die Zukunft

Nach der Phase der Dramen und der Phase der Thriller kommt Villeneuve mit Arrival schließlich in dem Genre an, das ihn nach eigenen Aussagen schon seit seiner Kindheit und dem Fund zahlreicher Comics von Ikonen wie Jean Giraud/Moebius, Enki Bilal, Philippe Druillet oder Raymond Poïvet in einer Schachtel einer Tante besonders faszinierte: der Science-Fiction. Und es gelingt ihm, auch hier etwas Neues in ausgetretenen Pfaden zu erschaffen. Die nur ansatzweise zu sehenden Aliens, die in Arrival auf der Erde landen, sind anders als alle Außerirdischen des bisherigen Science-Fiction-Kinos. Nur ein Teil der tentakelartigen Wesen ist überhaupt zu sehen. Der Film erzählt davon, wie eine Linguistin und ein Naturwissenschaftler versuchen, mit ihnen in Dialog zu treten. Näher als in Arrival war Villeneuve seinem Vorbild Steven Spielberg, der in Unheimliche Begegnung der dritten Art eine ähnliche Geschichte erzählte, womöglich nie.

Aber auch hier ist das futuristische Setting nur ein bildgewaltiges Alibi für eine philosophische Frage, die gar nichts mit Aliens zu tun hat. Es geht um eine Entscheidung für das Glück, auch wenn dessen Vergänglichkeit bewusst ist, um die Akzeptanz von zukünftiger Trauer und Verlust. Auch wenn sich Zeitstrukturen auflösen und Arrival dem Publikum den Boden unter den Füßen wegzieht, ist er doch auch eine geerdete Science-Fiction, verliebt in die traurigen Blicke von Amy Adams, immersiv durch die Soundkulisse und die getragene Stimmung und ganz nah bei seiner Protagonistin.

Amy Adams in ARRIVAL (USA 2016), © Sony

Spektakel gibt es bei Denis Villeneuve nicht um ihrer selbst willen. Im Gegenteil: Trotz fantastischer Settings sind Villeneuves Filme oft vielmehr Beispiele für eine Entschleunigung, für die Konzentration auf Atmosphäre und Stimmungen. So ist Blade Runner 2049 visuell und akustisch überwältigend und atemberaubend, aber eben auch, ganz im Sinne von Ridley Scotts Original-«Blade Runner» tiefgründig und anregend. Wenn der Replikantenjäger K beginnt, an seiner Künstlichkeit und seinem Handeln zu zweifeln und etwas Menschliches in sich zu entdecken und zu spüren glaubt, geht es auch hier um die Frage, was den Menschen eigentlich ausmacht. Blade Runner 2049 ist – wie Arrival – ebenso ein Film über die Zukunft wie über die Vergangenheit, über die Gegenwart wie über die Erinnerung, der allerdings nicht zu trauen ist, seitdem sie künstlich hergestellt werden kann. Auch wenn ein männlicher Protagonist im Mittelpunkt steht, stiehlt ihm eine Erinnerungsdesignerin letztlich die Schau. Während die Männer draußen kämpfen, gestaltet sie in einer Schutzblase kleine Welten.

Von der Salzwüste von Salt Lake City auf den Wüstenplanet Arrakis

«Entwickle dich weiter oder stirb» ist ein Motto, das von Villeneuve immer wieder zu hören ist. Auf den ersten Blick scheinen seine Filme dann auch sehr unterschiedlich zu sein. Aber dennoch werden rote Fäden sichtbar und lassen manche Filme wie thematische oder ästhetische Fortsetzungen der vorherigen wirken. So wird auch klar, was Villeneuve an der Adaption von Frank Herberts Science-Fiction-Epos Dune gereizt haben mag, geht es doch auch in diesem um einen verunsicherten Mann, der an seine Grenzen kommen wird, um eine starke Frau, die ihm Halt gibt, überhaupt um einen quasireligiösen Frauenorden, der die Macht besitzt, während die Männer politische Intrigen spinnen und sich bekriegen, um eine komplexe Science-Fiction-Geschichte, die dann aber doch im Subtext eng verbunden ist mit der Gegenwart und unter dem Deckmantel des Überbordenden über Menschen erzählt. Und es geht wieder um Blicke, um Perspektiven: die vom Spice gesättigten Augen der Einwohner des Wüstenplaneten erlauben es, sie so blau und tief in Szene zu setzen wie nie zuvor in der Filmografie von Denis Villeneuve.

Stefan Stiletto

Dieser Beitrag stammt aus dem FILMJAHR 2021/2022 – Lexikon des Internationalen Films. Mehr spannende Portraits von Filmschaffenden gibt es auch
im kommenden FILMJAHR 2022/2023