Von existenzieller zu relationaler Software am Beispiel von Animal Crossing: New Horizons

Das Spiel Animal Crossing: New Horizons (AC:NH) erschien so pünktlich zu Beginn der Corona-Pandemie, dass der Moderator John Oliver in seiner Show «Last Week Tonight» im Stile der ebenfalls in Zeiten der Corona-Pandemie auffällig werdenden Verschwörungserzählungen witzelte, die Hersteller:innen von Nintendo hätten die Pandemie inszeniert, um den Absatz ihrer Produkte anzukurbeln. In der Folge hat sich der Absatz der Nintendo Switch-Konsolen im ersten Corona-Quartal (April bis Juni 2020) im Vergleich zum Absatz im selben Quartal des Vorjahres verdoppelt. Zeitweise waren die Konsolen sogar ausverkauft. Gleichzeitig wurden die Timelines der sozialen Medien mit Memes und Bildern aus dem Universum von AC:NH geflutet.

Animal Crossing: New Horizons (AC:NH)

Haben diejenigen, die nicht oder nur geringfügig durch Pflege- und Sorgeaufgaben von der Corona-Krise betroffen waren, von Langeweile und Resignation geplagt den Weg des Eskapismus gewählt, um sich die Zeit bis zum Ende der Pandemie mit einem Konsolenspiel zu vertreiben? Oder ist die Flucht in die heile Welt von AC:NH nicht sogar Ausdruck der Ohnmacht und Hilflosigkeit angesichts eines von Klimakatastrophe und politischer Destabilisierung geplagten Planeten?

Jenseits existenzieller Software – AC:NH als Walking Simulator

In AC:NH geht es der Spielbeschreibung im Nintendo-Shop zufolge darum, ein Inselleben «exakt deinen Bedürfnissen» anzupassen und ein «unbewohnte[s] Stück Land, wo neue Freunde, wilde Entdeckungen und eine tolle Zukunft auf dich warten», zu bewohnen. Indem die Spielenden im Do-It-Yourself-Stil Geräte, Möbel und andere Dinge bauen (crafting), Freundschaften mit den tierischen Mitbewohner:innen der Insel knüpfen, die Möglichkeiten der Insel erkunden sowie Bestellungen aus dem Katalog von «Nook Shopping» (eine Amazon-artigen Verkaufsplattform) tätigen, kann «aus dem naturbelassenen Inselchen ein idyllisches Zuhause» werden, das ein «sorgenfreies Leben in deinem ganz eigenen Paradies» verspricht.

Mit den Worten von Berenice Fisher und Joan C. Tronto scheinen die Spielenden «a complex, life-sustaining web» zwischen den Dingen und nicht-menschlichen Lebewesen der Insel zu knüpfen und einen Einklang zwischen ihnen herzustellen. Es liegt deshalb nahe, AC:NH als Lebenssimulation zu beschreiben. Allerdings ist das Existenzielle des Lebens (seine Prekarität, Vulnerabilität und Endlichkeit) nicht in seine Spielstruktur eingeschrieben, denn es gibt kein drohendes Game Over und keine Bedürfnisse der Spielfigur, die berücksichtigt werden müssen, damit das Spiel überhaupt weitergespielt werden kann.

Screenshot von Animal Crossing: All Mine von Brent Watanabe, 2020

AC:NH kann als Teil jenes Spielgenres gelesen werden, das als Antwort auf die zunehmend kritisch betrachtete Workifizierung von Computerspielen zu lesen ist: die Walkingsimulatoren. Walkingsimulatoren stehen idealtypisch für einen Paradigmenwechsel im Spieldesign, demzufolge Spiele ihre Spielenden nicht länger mit einer existenziellen Sorge okkupiert halten. Advokat:innen des klassischen Spieleparadigmas sehen in Walkingsimulatoren eher Vertreter:innen interaktiver Medienkunst.

Neben der Unterscheidung zwischen dem englischsprachigen Play und Game kann dieser Paradigmenwechsel auch als eine Betonung eher feministisch konnotierter Sorgepraktiken aufgefasst werden. Computerspiele, die als existenzielle Software gelten, erfordern Sorgepraktiken wie «protection and production», wie sie in First-Person-Shootern wie Doom oder Call of Duty: Modern Warfare und in Strategiespielen wie Anno 1800, Sid Meier’s Civilization VI oder Cities Skylines vielfach reproduziert werden. Dagegen sind feministisch konnotierte Sorgepraktiken eher relational. Sie entsprechen einer Sorge, die sich um Beziehungen zwischen «Umwelten, Menschen, Flora und Fauna» sorgt. In dieser Hinsicht rückt die existenzielle Sorgestruktur des klassischen Computerspielparadigmas in den Hintergrund und stattdessen kümmern sich die Spielenden in AC:NH um die Bildung und den Erhalt von Beziehungen zur Umwelt ihrer Spielfigur, den Mitbewohner:innen, der Flora und Fauna.

Akkumulierendes Besorgen

Was so idyllisch klingt, entspricht einem Kalkül der Produzent:innen von AC:NH, das sich die Ambivalenz der Sorge zunutze macht. Denn alle Sorge um Pflanzen, Tiere, Mitbewohner:innen usw. kann in diesem Spiel immer auch aus einem ökonomischem Kalkül des Konsums erfolgen, das den Spielenden regelmäßig nahegelegt wird, indem ihnen ständig neue Kaufangebote gemacht werden. Ist die Spielfigur anfangs nur mit einem Zelt ausgestattet, bietet der Inselvorsteher Tom Nook alsbald an, die Bleibe mithilfe neuer Kredite stufenweise zu vergrößern.

Tom Nook (Mitte) bietet an, das Haus der Spielerin zu vergrößern

Die Kredite werden in Bells (dt. Sternis, die virtuelle Spielwährung von AC:NH) abbezahlt, die man u. a. für geerntetes Obst, gefangene Insekten und Fische und alle weiteren gesammelten Objekte (selbst leere Dosen oder ein Büschel Gras) bei Timmy, Nooks Neffen, erhält. Die vergrößerte Bleibe bietet dann mehr Platz für neue Gegenstände zur Innenreinrichtung (von Tapeten, Böden, Lampen über Möbel bis hin zu einer Replik der Nintendo Switch Konsole) und Kleidungsstücke, die per Katalogbestellung erworben, in der Umwelt gefunden oder selbst hergestellt werden können. Die Inspiration zu den schier unendlichen Möglichkeiten des Produkterwerbs in AC:NH bekommen die Spielenden zudem in den vielfältigen Internetforen zum Spiel oder den sozialen Medien, in deren Kontext das Spiel immer eingebettet ist, weil es dort thematisch wird.

Hier zeigt sich, dass AC:NH Teil eines größeren Sorge-Ökosystems ist, welches die existenzielle Sorge des klassischen Spieleparadigmas aussetzt und stattdessen von außen durch regelmäßige Updates immer neue Trends und Moden injiziert, um die die Spielenden sich dann so sorgen können, wie sie es aus ihrem Konsumalltag gewohnt sind.

In Zeiten der Pandemie kann AC:NH also, Ian Bogost folgend, tatsächlich als Surrogat wirken für freundschaftliche Beziehungen, wenn diese sich über eine geteilte Freude am Konsum definieren. Kritisch wird aber auch deutlich, dass jedes Sammeln von Freund:innen, Fossilien, Pflanzen usw. neue Möglichkeiten eröffnet, um weitere Beziehungen und Freund:innen usw. zu sammeln. Insofern steht jede Form der Fürsorge für Mitbewohner:innen oder die Umwelt in AC:NH immer auch unter dem Verdacht, ein kapitalistisches Akkumulieren im Sinne eines Besorgens zu sein.

Sebastian Möring

Ein gekürzter Beitrag aus der Zeitschrift AUGENBLICK, Ausgabe 85 «Automatisierte Zuwendung: Affektive / Sensible / Fürsorgende Medien»