1914 erblickte Chaplins Tramp das Licht der Kinogeschichte

Der Moment wurde oft mystifiziert und romantisiert: Im Januar 1914, während der Dreharbeiten zu der zwanzigminütigen Farce Mabel Strange Predicament begab sich der unbedeutende, aber ehrgeizige Nebendarsteller Charles Spencer Chaplin in den Kostümfundus der Keystone-Studios, um sich für die kommende Szene auszustaffieren.

Was dann geschah, wirkt in Chaplins Autobiografie und dem darauf basierenden Biopic von Richard Attenborough wie reine Magie: Da erwachen die Requisiten zum Leben – die viel zu enge Anzug­jacke mit den herausquellenden Hemden, die viel zu kurze Pluderhose mit den viel zu großen Schuhe, die staubige Melone, der biegsame Spazierstock und der berühmte Schnurrbart – und formen sich wie von selbst zur berühmtesten Filmfigur aller Zeiten: dem Tramp. So gewappnet schreitet Chaplin zurück zum Set, erobert mit seinem liebenswertem Chaos erst die weibliche Hauptfigur, dann die Zuschauer – und schließlich die Welt.

Die Wahrheit sah mal wieder ein wenig anders aus: Tatsächlich war der Tramp keineswegs die In­spiration eines Augenblicks, sondern ein Alter Ego, das Chaplin bereits einige Mal auf der Vaudeville-Bühne in England ausprobiert hatte. Und auch mit der Liebenswürdigkeit des Tramps war es zu Beginn seiner Filmkarriere nicht weit her. In Mabels Strange Predicament wie auch in dem später gedrehten aber früher gezeigten Fünfminüter Kid Auto Races at Venice Beach konnte man den Tramp als äußerst aufdringlichen und unangenehmen Gesellen sehen, der Frauen begrapschte und andauernd Streit vom Zaun brach. Und das blieb er auch fast ein ganzes Jahr lang: Chaplins Tramp, häufig an der Seite von befreundeten Stummfilmstars wie Fatty Arbuckle, Mabel Normand oder seinem Studioboss Mack Sennett, soff und torkelte, grapschte und prügelte sich durch dutzende meist halb-improvisierte Kurz-Anekdoten und den einen oder anderen Zwanzigminüter.

Charlie Chaplin
Charlie Chaplin in seiner Paraderolle

Wandlung der Tramp-Figur

Erst 1915, als Chaplin sich längst auch als Regisseur durchgesetzt hatte, drehte er für das Essanay-Studio einen Film, in dem er sein berühmtes Alter Ego neu erfand: Unter dem simplen Titel The Tramp wurde der kleine Vagabund hier endlich zu dem charmanten Underdog, als den ihn die Welt seither kennt und liebt: ein wirtschaftlich abgestürzter, aber im Herzen anständiger und schüchterner kleiner Kamerad, der ständig mit den Widrigkeiten des modernen Lebens kämpfte. Der Imagewechsel war ein Risiko, das allen Beteiligten schmerzhaft bewusst war. Schließlich schien der Erfinder und Darsteller dieser Figur, Charlie Chaplin selbst, nicht gerade prädestiniert dafür, Gefühle wie Mitleid, Liebe und Hoffnung im Publikum zu wecken.

Denn so sehr uns Chaplin und der Tramp heute untrennbar erscheinen, so unterschiedlich waren sie doch. Wer denkt, Chaplin hätte in seiner berühmten Hauptfigur eigentlich nur sich selbst abgebildet, der unterschätzt den bis heute unerreichten Schauspieler, Autor und Regisseur Charlie Chaplin. Sicher, auch Chaplin stammte aus ärmsten Verhältnissen, konnte nicht einmal ein Geburtszeugnis vorweisen und war genau wie der Tramp jedem denkbaren Broterwerb nachgegangen, um zu überleben. Doch da hören die Parallelen auch schon auf. Chaplin war ein legendär harter und kleinlicher Verhandlungspartner, ei­ner der berühmtesten Menschen des Planeten und umgab sich gerne mit internationalen Geistesgrößen wie Winston Churchill, Albert Einstein, H. G. Wells oder John Steinbeck. Der Tramp war nichts, hatte nichts und kannte keinen. Chaplin war geizig, penibel bis zur Obsession und selbstbewusst – der Tramp war trotz seiner Armut großzügig, leichtlebig und selbstvergessen. Selbst äußerlich schienen die beiden sich nicht wirklich ähnlich zu sehen, wie jeder bezeugen kann, der Chaplin mal ungeschminkt gesehen hat.

Chaplins Alter Ego?

Nein, man sollte sich die Beziehung zwischen Charlie Chaplin und dem Tramp vielleicht besser so vorstellen wie die zwischen Clark Kent und Superman. In Gestalt seines Alter Egos konnte (und musste) Chaplin all jene Qualitäten ausleben, die ihm außerhalb des Filmstudios einfach nicht gelingen wollten. Der Mann, der viel Geld verdiente, konnte in Filmen wie Pay Day und Modern Times die Leiden des modernen Niedriglohnarbeiters durchleben. In Gestalt des Tramps konnte Chaplin auch in beiden Weltkriegen mitkämpfen (in Filmen wie Shoulder Arms oder Der große Diktator), obwohl er dem Einzug sowohl in die britische wie auch in die US-Armee entging. Und für den ständig skandalumwobenen Frauenhelden Chaplin war der Tramp auch eine Möglichkeit, in bittersüßen Liebesfilmen wie City Lights und Limelight seine tiefe, platonische Romantik auszuleben. Vor allem aber durfte Chaplin, der Zeit seines Lebens verschwieg, dass er zu einem Teil aus der Roma-Gemeinde stammte, als Tramp ein soziales Außenseitertum durchspielen, dass er tief innen sehr gut kannte: Egal, ob als Einwanderer oder Goldsucher, als Fließbandarbeiter oder Friseur, als Zirkusclown, Soldat oder Trunkenbold, dem Tramp hafteten immer wieder die gleichen Eigenschaften an: Armut, Improvisationstalent, Herzensgüte und eine profunde Heimatlosigkeit.

Daniel Bickermann (aus dem Filmkalender 2014)
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