Unterwegs in einer Stadt voller Gegensätze

Wir setzen unsere Reise zu filmischen Schauplätzen fort – diesmal geht es nach Wien. Wien im Film, das sind einerseits nach wie vor seine historischen Sehenswürdigkeiten: Wenn Orson Welles in Der dritte Mann (1949) über den Josefsplatz huscht, Julie Delpy und Ethan Hawke in Before Sunrise (1995) den Maria-­Theresien-Platz bewundern, Viggo Mortensen und Michael Fassbender in Dunkle Begierde (2011) ihren Kaffee im Café Sperl trinken oder Tom Cruise in Mission: Impossible – Rogue Nation (2015) über die Staatsoper turnt, dann inszeniert sich Wien immer auch als Attraktion.

Andererseits erzählen Wien-Filme aber auch eine andere, weniger einladende Geschichte: von Dunkelheit und Schrecken, Ausgrenzung und Vertreibung. Von der kalten Peripherie, vom Alltag im Gemeindebau und den weniger schmucken Bahnhöfen, Parks und Plätzen. Von einem dieser dunken Filme erzählen wir im Folgenden.

Wien mal anders

Als Barbara Alberts Nordrand im September 1999 seine Welt­uraufführung beim Festival in Venedig feierte, wo Nina Proll einen Preis als beste Nachwuchsdarstellerin erhielt, war die Begeisterung groß, und mit Recht: Der Regisseurin und Autorin, die zuvor schon mit einigen Kurzfilmen ihr Talent bewiesen hatte, gelang es scheinbar mühelos, nicht nur eine relevante Geschichte über die Lebensrealität zweier junger Frauen zu erzählen – im österreichischen Film der Zeit musste man diese mit der Lupe suchen –, sondern auch ein Wien-Bild zu zeigen, das man so im heimischen Film noch nicht oft gesehen hatte. Touristische Attraktionen fehlen völlig, wenn man von einer turbulenten Silvesterfeier am Stephansplatz, wo alljährlich die Massen das neue Jahr begrüßen, absieht. Der präzisen Beobachtung der Orte entspricht Alberts Gespür in Bezug auf das Milieu, aus dem ihre beiden Protagonistinnen stammen.

A Star is born: Nina Proll als Jasmin in Nordrand

Das rote Wien

Jasmin und Tamara, zwei Freundinnen aus Volksschultagen, treffen einander in einer Abtreibungsklinik wieder: Jasmin, die aus einem schwierigen Elternhaus stammt, ist von ihrem Chef in der Konditorei, in der sie arbeitet, schwanger; Tamara, die als Krankenschwester arbeitet und aus Ex-Jugo­slawien stammt, von ihrem Freund Roman, der beim Österreichischen Bundesheer ist und die Grenze gegen «illegal» einwandernde – vor allem bosnische – Flüchtlinge sichert. Zwei solcher «Grenzgänger», der junge Rumäne Valentin, der in die USA will, und der Bosnier Senad, kommen schließlich ins Spiel, letzterer, als er Jasmin, die nach einem Saufgelage halb erfroren im Freien liegt, das Leben rettet. Die Wege der vier jungen Leute kreuzen sich für einige kurze, flüchtige Momente in einem winterlichen, unwirtlichen Wien, an nicht besonders sehenswerten Orten, oder besser gesagt: Un-Orten. Der alte, nicht mehr existierende Busbahnhof Wien-Mitte, der alte Bahnhof Wien-Landstraße ein Ausbund an Schäbigkeit, die Schweglerbrücke über die Westbahn in Wien-Penzing und, wie der Titel des Films unmissverständlich klarmacht, der «Nordrand» Wiens, wo man in den siebziger Jahren anfing, anstatt der oft recht pittoresken Vorzeige-Gemeindebauten des «roten Wien» der dreißiger bis fünfziger Jahre potthässliche, schmucklose Trabantenstädte wie anderswo auch zu bauen – namentlich die sogenannte Großfeldsiedlung (mit Wohneinheiten für 21 000 Menschen) und die lange Zeit verrufene Siedlung am Rennbahnweg. Es ist ein Wien, das sich nach der Öffnung der Grenzen zum Osten hin stark verändert hat, ein Prozess, der bis heute im Gange ist und Nordrand demzufolge immer noch sehr aktuell wirken lässt. Wien wurde, auf seine Weise, ein Schmelztiegel, als oft erste Anlaufstelle für Flüchtende, die dann häufig, mangels Alternativen, in der Stadt bleiben. Nordrand beschreibt diese Bewegungen, wenn auch gegenläufig: Am Ende reist Valentin in die USA, während Tamara zu ihren Eltern nach Serbien zurückkehrt, weil ihr Bruder Alexander im Bürgerkrieg gefallen ist, während Jasmin, die zum zweiten Mal schwanger ist, und Senad in Wien bleiben.

Zum Weiterlesen
Andreas Ungerböck/Michael Pekler
Wien: Eine Stadt als Filmkulisse
128 S. | zahlr. farb. Abb. | Pb. | € 14,90
ISBN 978-3-7410-0320-2
Das Buch unternimmt eine unterhaltsame Spurensuche durch die besten Filme mit der Donau-Metro­pole als Kulisse, vergleicht Einst und Jetzt und liefert alle dazugehörigen Stories und Anekdoten, ohne die es nun einmal in der Filmgeschichte nicht geht.
Mit Faltplan zum Ausklappen