Das einzigartige Golzow-Projekt ist zum Ende gekommen
Kinder werden in einem kleinen Dorf geboren, gehen gemeinsam in die erste Schulklasse, lernen und entwickeln sich jeder auf seine Weise. Ihre Lebenswege werden durch eigene Entscheidungen, aber auch durch gesellschaftliche Verhältnisse und die Geschicke ihres Heimatlandes bestimmt. Nichts besonderes – wenn nicht ihre Lebenswege mit der Kamera dokumentiert worden wären und dadurch ein Filmdokument zeitloser Qualität entstanden wäre.
Seit 1961 verfolgen Winfried und Barbara Junge die Lebenswege der Kinder einer Schulklasse im Oderbruch. Das Golzow-Projekt gilt damit als eines der 100 wichtigsten Filmwerke in 100 Jahren Filmgeschichte.
Der gerade erschienene zweite Begleitband dokumentiert den endgültigen Abschluss des Golzow-Projekts mit vier langen Filmen und berichtet von den schwieriger gewordenen Finanzierungs- und Produktionsbedingungen.
Wir nehmen das Ende der unendlichen Geschichte zum Anlass und befragen die Filmemacher zu ihren Filmen.
Fragen an Winfried und Barbara Junge
FILMgeBlätter: Sehr viele Leute sind fasziniert von Ihren Filmen und dem Schicksal der Porträtierten. Was ist es Ihrer Meinung nach, was die Menschen in Bann zieht?
Dass alltägliches Leben im Prozess seiner ständigen Veränderung bereits ausreicht, um zu interessieren, hätten wir anfangs auch nicht für möglich gehalten. Aber wer sich mit seinen Gedanken und Empfindungen, Freuden, Sorgen und wichtigsten Problemen wirklich wiedererkennen will, dem dürfte so etwas wie Gute Zeiten, schlechte Zeiten im Fernsehen nicht reichen. Bei ehemaligen DDR-Bürgern kommt hinzu, dass sie etwas von diesem Leben in ihrem Deutschland wiedersehen wollen, mit dem sie einst große Hoffnungen verbanden und es nicht reduziert sehen wollen auf Stasi auf der einen und Bürgerrechtler auf der anderen Seite. Dazwischen gab es millionenfach gelebtes Leben, Menschen, die sich nicht ausreden lassen wollen, dass man in der DDR – wie auch immer – leben konnte.
FILMgeBlätter: Wie haben sie ihre Rolle verstanden? Als neutraler Beobachter oder als teilnehmender Begleiter? Haben sie die jeweilige gewählte Position je bereut?
Der neutrale Beobachter ist gegenüber dem teilnehmenden Begleiter wohl in einer risikoloseren, vornehmen Position. Man führt Menschen vor und überlässt es dem Zuschauer zu werten und zu interpretieren. So allein sei guter Dokumentarfilm möglich, diktiert da ein Dogma. Nach allem, was die deutsche Wende mit sich brachte, liegt uns hingegen mehr denn je daran, sich an die Seite unserer Protagonisten zu stellen und sich mit ihrer Kritik an Vergangenem ebenso wie ihrem Ja zu allem, was positiv war und/oder heute positiv ist, zu solidarisieren. Wenn Filme auf diese Weise auch Lebenshilfe leisten könnten, wäre uns das überdies lieber als wenn man ihre makellose Ästhetik rühmt.
Die Nicht-Golzow-Filme
FILMgeBlätter: Seit 1961 steht die Langzeitdokumentation Die Kinder von Golzow im Zentrum ihrer Arbeit. Was können sie uns denn über die Filme, die nicht Golzow zum Thema hatten, erzählen? Gibt es einen, der ihnen besonders am Herzen liegt?
Außer den 19 Filmen über die Kinder von Golzow habe ich ja noch 35 andere machen können, fünf davon auch mit Barbara. 15 von ihnen würde ich heute noch für ansehenswert halten, aber es fehlt an Geld, sie digitalisiert als eine Doppel-DVD-Kassette anzubieten. Und so werden sie wohl, wie so viele Filme der meisten unserer DEFA-Kollegen, in Vergessenheit geraten. Um einige Titel zu nennen: Keine Pause für Löffler (1974/75), mein erster längerer Dokfilm über einen jungen Berliner Lehrer, der eine schwierige Klasse in den Griff zu bekommen versucht. Der Film bot Durchblicke auf Schulalltag, die der Volksbildung offiziell nicht lieb waren und viel Diskussion provozierte.
Oder – nach Filmen in Syrien, Somalia und Libyen – der erste gemeinsame Film mit Barbara im Ausland: Diese Briten, diese Deutschen (1987/88), eine Koproduktion mit einem Workshop in Newcastle (Nordostengland) für Channel 4, der, als er endlich im Sommer-Herbst 89 unsere Kinos erreichte, in den Wirren dieser Monate unterging.
Das Interview kann in ganzer Länge auf unserer Homepage gelesen werden.
Erfahren Sie mehr in Lebensläufe – Die Kinder von Golzow und in Und wenn sie nicht gestorben sind…Die Kinder von Golzow -> Hier geht es zur Leseprobe
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