getanzt – geliebt – gelacht – geweint

Es ist bunt, schrill, laut, sentimental, lustig, traurig, mitreißend, erotisch und zugleich prüde und wird in den Studios der Megacity Mumbai gedreht. Dann wieder zeigt es sich sensibel, subtil inszeniert, literarisch, gesellschaftskritisch und entstammt zum Beispiel der Arthouse-Filmszene in Kalkutta. Und als südindische Antwort auf die Hindi-Filme des Nordens kann es gelegentlich noch bunter, noch schriller ausfallen, eine hybride Mischung zwischen Musical- und Martial-Arts-Film jenseits aller Kino-Konventionen und Genrekategorien: Das indische Kino ist so komplex und heterogen wie der Subkontinent selbst, seine Menschen und ihre Lebensweisen.

Indisches Cineastentum

Nur in einem Punkt führt alles zusammen: Film-Kultur in Indien ist Film-Kult, pures Cineastentum.Film-Stars rangieren als Helfer in der Not und Idealfiguren neben den Göttern, die sie im Übrigen auch auf der Leinwand immer wieder symbolisch verkörpern dürfen. Shiva und Parvati, Sita und Ram, Krishna und Radha erweitern die Filme aller Stilrichtungen um die Dimension des Spirituellen, ohne das in Indien selten Geschichten erzählt oder auf die Leinwand gebracht werden. Der indische Mainstream-Film unterhält nur scheinbar mit deutlichen Mitteln, in Wahrheit ist er in seiner eigenwilligen Gestalt, seinen feinen Differenzen, seinen Subtexten und kulturellen Bezügen für Uneingeweihte nicht leicht zu verstehen. Seinen Weg in den Westen bahnte im Übrigen ein australischer Film, der die Formensprache des Masala-Movies zum transkulturellen Stilprinzip erhob.

Could we create a cinematic form like that? 2001 beantwortete sich der Opern- und Filmregisseur Baz Luhrmann diese Frage durch seinen neuen, vom indischen Kino inspirierten Film Moulin Rouge! selbst. Wer noch nie zuvor eine Begegnung mit dem filmkulturellen Vorbild dieses fulminanten Werks gemacht hatte, war im Kino dann doch ein wenig verblüfft: Die Leinwand explodiert geradezu im Wirbel leuchtendbunter Stoffe. Berühmte Songs der Popgeschichte werden ebenso wild ineinander montiert wie Tanzstile quer durch Zeiten und Kontinente. Luhrmann inszeniert das Ganze als Musical im Bollywood-Stil: laut und ironisch, komisch und schrill, senti­mental und pathe­tisch. Moulin Rouge! endet mit einer Aufführung des Bollywood-Varietéstücks «Spec­ta­cular, Specta­cular» zu dem Hindifilm-Song «Cham­ma Chamma» aus Rajkumar Santoshis Film China Gate (IND 1998). Knapp sieben Wochen nach der Urauffüh­rung auf dem Cannes Film Festi­val fand die Premiere von Moulin Rouge! in Indien statt und begeisterte nicht nur das indische Publikum, sondern auch dessen größten Star, Shah Rukh Khan, der Luhrmanns Hommage an den indischen Mainstream-Film zu seinem persönlichen Lieblingsfilm erkoren hat.

Kareena Kapoor und Hrithik Roshan in In guten wie in schweren Tagen (Kabhi Khushi Kabhie Gham, IND 2001)

Stabile Fankultur

Erst 2003, also knapp zwei Jahre danach, erreichte mit Ka­ran Johars Block­buster In guten wie in schweren Tagen (Kabhi Khushi Kabhie Gham, IND 2001) ein echter «Bolly­wood-Film» ein breites Publi­kum in Deutschland. Nach den ersten Ausstrahlungen von kommer­ziellen Hindi-Filmen im Kino und vor allem auch im Fernsehen bildete sich durch die neuen Kommunikationsmöglichkeiten des Web 2.0 eine stabile Fan­kultur, die im Kino den geo­­gra­fisch und kulturell fernen Subkontinent einmal mehr entdeckte. Indien-Re­naissancen ziehen seit der literarischen Romantik in regel­mäßi­gen Wellen über die west­liche Kultur: Angeregt durch Persönlich­keiten wie den Indo­­logen Au­gust Wil­helm Schlegel, den Philosophen Arthur Schopenhauer oder den Schrift­steller Her­mann Hesse beflügelte Indien die Lebensreform­bewe­gung um 1900, die Hippie­bewegung nach 1968, die Beatles und die Popkultur.

Siegeszug des indischen Kinos

1984 dreht David Lean seinen letzten Film A Passage to India über die psychologische Dimension eines Culture Clashs und die Deplatziertheit der englischen Kolonialmacht innerhalb der indischen Le­bens­welt. Nach der politischen und wirtschaftlichen Öffnung Indiens in den 1990er Jahren und in Folge des globalen Medienwandels, der Filme aus aller Welt für ein Weltpublikum verfügbar macht, erobert nun auch das indische Masala-Movie mit Gesang, Tanz, Farbe und Gefühl das westliche Publikum, zumindest zum Teil. Denn Bollywood-Filme lösen bei manchen Zeitgenossen Befremden aus, vor allem, weil sich ihre inhaltliche, narrative und symbolische Tiefe ohne breite kulturelle Vorkenntnisse nicht erschließt und weil die in Indien geliebte filmische Berg-und-Talfahrt der Gefühle gelegentlich schwindelerregend sein kann.

Susanne Marschall

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