9.12.1929–3.2.1989

Cassavetes war ein wandelnder Anachronismus. Es war die Zeit des Hollywood-Studiosystems, als Hollywood mit Love Story (1970) ins Schnulzenland abrutschte, und mittendrin stand dieser New Yorker Darsteller mit griechischen Wurzeln und wollte das Cinéma Vérité nach Amerika holen. Damit nicht genug: Zehn Jahre vor den New Hollywood-Stars produzierte und vermarktete er seine Filme mit europäischen Geldern unabhängig von den großen Konzernen. John Cassavetes gilt neben Roger Corman als Vater des US-Independentkinos. Seine Filme waren schonungslos ehrlich, kraftvoll, brillant und immer auch ein wenig anstrengend. «Das muss so sein», polterte Cassavetes einmal: «Ich bin ja schließlich nicht in der Unterhaltungsbranche.»

Es waren nur eine Handvoll Filme, Schatten (1958), Gesichter (1968), Ehemänner (1970) und Eine Frau unter Einfluss (1974), mit denen Cassavetes eine filmische Revolution auslöste: Geschichten aus dem Alltag der amerikanischen Mittelschicht, von unerfüllten Träumen und geheimen Sehnsüchten. Der Stil seiner Filme wirkte beinahe dokumentarisch, mit bewegter Kamera, Unschärfen, schwacher Beleuchtung und abrupten Schnitten. Er versammelte seine Darsteller lange vor Drehstart für wochenlange Proben, wie sie am Theater üblich waren, und entwickelte mit ihnen in dieser Zeit auch das Drehbuch weiter. Die auf diese Weise natürlich gewachsenen Dialoge waren in ihrer Direktheit und in ihrem Realismus ein Schock für das Publikum und für die Kritik, die ihn und sein festes Ensemble frenetisch feierte. Die großen Massen konnte er freilich nicht gewinnen: Er hatte sich bedingungslos der Wahrheit verschrieben, sein Stil eckte an. John Cassavetes war eine einmalige Erscheinung in der amerikanischen Kinogeschichte. Er wurde als Schauspieler, Drehbuchautor und Regisseur für den Oscar nominiert, er bekam den Goldenen Löwen in Venedig und den Goldenen Bären in Berlin, wurde verehrt, verkannt und imitiert. Viele wollten seitdem so sein wie er, aber niemand kam auch nur in die Nähe seines kompromisslosen Stils.

Aus dem Schüren Filmkalender