25 Ungarische Filmklassiker zum Kennenlernen

Wir setzen unsere Reise durch die osteuropäische Filmkultur mit einem Halt in Ungarn fort, einem Filmland, das vielen sicher eher unbekannt ist. Vielleicht fällt älteren Lesern Ich denke oft an Piroschka ein, was aber eindeutig kein ungarischer Film ist, sondern nur einer, der vorgab, dort zu spielen.

25 Einblicke in die Vielfalt des ungarischen Films präsentiert KLASSIKER DES UNGARISCHEN FILMS. Als Auswahl von Filmklassikern eines bedeutenden ostmitteleuropäischen Kinos ähnelt es einer Besichtigungstour, während der einzelne Stationen aus der Nähe in Augenschein genommen werden können. Dies soll ausdrücklich Appetit machen, von den vorgestellten Filmen mehr sehen zu wollen. Wir zitieren stellvertretend aus drei Filmanalysen dieser Sammlung.

Amerikanische Ansichten (1975) R: Gábor Bódy

Ein typisches Thema ungarischer Filme bis zum Ende der 1960er-Jahre war der ungarische Volksaufstand von 1956. Der Film kommentiert die Zeit nach 1956, indem er Parallelen zur Revolution von 1848/1849 zieht. Nach der ungarischen Revolution 1848 und dem verlorenen Unabhängigkeitskrieg sahen sich viele Ungar*innen zur Emigration gezwungen.

Amerikanische Ansichten zeigt die Hoffnungslosigkeit nach dem Scheitern der Revolution von 1848/1849, um damit die Desillusionierung nach 1956 darzustellen. Der Volksaufstand wird nicht explizit erwähnt. Vielmehr zeigt Bódys Film prototypisch drei Schicksale, die als repräsentativ für ungarische Emigrant*innen verstanden werden können: Dies ist zunächst János Fiala, ein Vermessungsoffizier, der als rationaler Wissenschaftler dargestellt wird. Fiala lässt im Film das Ungarn des 19. Jahrhunderts hinter sich und wendet sich einer Zukunft in Amerika zu. Der Zweite ist Boldogh, Fialas Gehilfe. Er wird als sentimentaler Idealist gezeigt. Von Heimweh und Hoffnungslosigkeit geplagt lässt er seine revolutionären Gedanken hinter sich und möchte zu seinen Wurzeln nach Ungarn zurückkehren, mit der Aussicht dort sterben zu müssen. Die dritte Figur ist Ádám Ve­reczky, der als Fatalist dargestellt wird. Scheinbar heroisch tritt er oft mit verschränkten Armen auf und stirbt am Ende des Filmes einen grotesken und sinnlosen Tod.

Mein 20. Jahrhundert (1988) R: Ildikó Enyedi

Mein 20. Jahrhundert spielt an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert und erzählt die Geschichte der Zwillinge Dóra und Lili (beide: Dorota Segda, *1966). Die Mädchen werden in Budapest in armen Verhältnissen geboren, wachsen getrennt voneinander auf und führen als junge Frauen sehr unterschiedliche Leben. Während Dóra als Weltreisende und unabhängige Abenteuerin ihre Beziehungen mit Männern immer wieder geschickt für sich ausnutzt, ist Lili Anhängerin der Suffragetten und politischer Untergrundbewegungen, verteilt Flugblätter und plant gar ein Attentat. Beide sind über Z (Oleg Jankowski, 1944–2009), einen gebildeten ungarischen Reisenden, in einer Dreiecksbeziehung verbunden, in der der Mann allerdings nicht versteht, dass er es mit zwei verschiedenen Frauen zu tun hat …

Mein 20. Jahrhundert (1988)

Neben der originellen Bild- und Formensprache, die den Stummfilm zitiert, werden märchenhafte Elemente wie sprechende Tiere oder die Sterne am Himmel, die mit den Stimmen der Mädchen sprechen, besonders betont. Tiere erhalten im Film die Rollen von Boten einer lebenswerteren Welt und stehen für die Kraft des Instinkts und die Freiheit des Seins.

Sauls Sohn (2015) R: László Nemes

Die Handlung des vielfach ausgezeichneten Films, spielt im Jahr 1944 und zeigt einen bis heute in vieler Hinsicht unaufgearbeiteten, schmerzlich tragischen historischen Augenblick. Saul Ausländer (Géza Röhrig, *1967), der fiktive Protagonist des Films, schiebt als Mitglied des Sonderkommandos, einer im KZ in den Krematorien eingesetzten Spezialeinheit aus jüdischen Gefangenen, stumpf und mechanisch die täglich ankommenden Massen in die Gaskammern und muss die sterblichen Überreste der Toten beseitigen. Eines Tages jedoch überlebt ein Junge die Vergasung unerwartet. Dies reißt Saul aus seiner Apathie. Als der Junge stirbt, wird Sauls wichtigstes Ziel, ihn, der von da an als sein Sohn bezeichnet wird, nach jüdischem Ritual zu bestatten, was unter den Verhältnissen im Lager und im Vorfeld des Aufstands der Gefangenen ein kühnes Unternehmen ist.

Sauls Sohn spricht die Zuschauer*innen sowohl mit dem umstrittenen Thema Sonderkommando, als auch durch die Art seiner Inszenierung des Geschehens und seinen Stil sehr direkt an und reißt ihn ins Zentrum der Ereignisse, während er wenig Möglichkeit lässt, dieser Konfrontation auszuweichen.

Daniel Bühler / Dominik Hilfenhaus / Stefan Krause (Hg.)
Klassiker des ungarischen Films
240 S. | Pb. | € 14,90
ISBN 978-3-7410-0328-8
Reihe: «Klassiker des osteuropäischen Films»

https://www.schueren-verlag.de/programm/titel/609-klassiker-des-ungarischen-films.html