Edgar Reitz über eine ANDERE HEIMAT in Brasilien
Die Heimat-Trilogie, deren erster Teil als Fernsehserie vor beinahe 40 Jahren lief, hat eine ganze Generation bewegt. In seinem neuen Kinofilm Die andere Heimat – Chronik einer Sehnsucht zeigt uns Edgar Reitz die Vorfahren der Familie Simon in der Mitte des 19. Jahrhunderts, als Armut und Unfreiheit viele Menschen zur Auswanderung trieben. In den Hunsrückdörfern war vor allem die Auswanderung nach Brasilien populär.
Vor dem Hintergrund dieser historischen Tatsache entfaltet sich eine bewegende Geschichte von großer Poesie, die sicher auch deswegen so berührt, weil Edgar Reitz das fiktive Dorf Schabbach mit größtmöglicher Sorgfalt und Präzision zum Leben erweckt hat. Im Folgenden geben wir einen gekürzten Auszug aus dem begleitenden persönlichen Filmbuch wieder, in dem der Regisseur schildert, wie das nüchterne Thema «Auswanderung» ihn zu seinem Film motiviert hat.
Der Anstoß zur Produktion der Anderen Heimat liegt lange zurück. Das erste Mal begegnete mir das Thema Auswanderung schon während der Dreharbeiten von Heimat 1, als ich im Hunsrück immer wieder auf die Erinnerungen der Menschen an die Zeit des großen Exodus stieß. Hunderttausende hatten vor mehr als 150 Jahren bestimmte Regionen Europas verlassen, und ich war erstaunt zu sehen, dass sich die Spuren dieser Ereignisse noch im Gedächtnis der fünften Generation danach abzeichneten. Offensichtlich bestanden Kontakte zwischen der ‹Heimat› und den fortgegangenen Teilen der Familien noch über zwei Generationen nach der Auswanderung. Unterbrochen wurden sie im 20. Jahrhundert vor allem durch die Weltkriege – lebten dann aber wieder auf. Man berichtete mir von Begegnungen mit Nachkommen der Auswanderer, die in Brasilien bis auf den heutigen Tag Hunsrücker Dialekt sprechen und denen man sich gerade durch die Mundart überraschend nah fühlte …
Auswanderung im kollektiven Gedächtnis
Es gab von da an mehrfach Pläne, wenn es die Zeit erlaubte, nach Brasilien zu fahren, um die ‹fernen Verwandten› kennenzulernen. Ich habe die Reise jedoch immer wieder verschoben, weil ich mich vor solchen Begegnungen ein wenig fürchtete. Zugleich aber kreisten meine Gedanken immer häufiger um das Thema der Auswanderung, und ich besorgte mir Informationen und Literatur zum Thema, um die Motive der Menschen von damals verstehen zu lernen.
Ich begann zu recherchieren, wie die konkreten Zeitumstände im Hunsrück beschaffen waren. Überall, las man, habe große wirtschaftliche Not geherrscht, Hungersnöte wurden von Jahr zu Jahr größer, weil man Saatgut und Reserven aufgezehrt hatte.
Bildung als Auslöser
War es wirklich nur die Not? Gab es nicht immer schon dieses karge Leben mit gelegentlichen Missernten? Waren nicht in vergangenen Zeiten Tausende von armen Menschen auf dem Land verhungert? Warum kam es dann zu diesem Exodus, der von kritischen Zeitgenossen als «Brasilien-Sucht» oder «Auswanderungs-Epidemie» bezeichnet wurde? Ich stieß bei meinen Recherchen auf einen Umstand, der von den Historikern kaum beachtet wurde: Die Leute, die in der sogenannten «Vormärz-Zeit» (ca. 1830–1848) ausgewandert sind, gehörten zur ersten Generation der alphabetisierten Deutschen auf dem Lande. In Preußen, dessen Staatsgrenzen den Hunsrück mit umfassten, wurde um 1815 die allgemeine Schulpflicht eingeführt. Ich nehme an, dass sich das allgemeine Wissen durch das Lesen grundlegend verändert hat. Auch der Hunsrücker Bauer wusste nun, dass die Erde rund ist, dass es andere Klimazonen und Länder mit anderen Eigentumsregeln gibt als in der Heimat. Das neue Wissen über ferne Völker hat m. E. auch die Fantasie der Menschen angeregt: Eine romantisch-eskapistische Fantasie breitete sich aus. Hinzu kam, dass Brasilien um Einwanderer warb. Der brasilianische Kaiser, Dom Pedro II., schickte seine Werbetrupps nach Europa, insbesondere nach Deutschland in die Regionen, in denen Landwirte lebten, die zugleich ausgebildete Handwerker waren.
Wir können uns in Deutschland heute nur schwer vorstellen, was «Auswandern» eigentlich bedeutet, da wir nur die Gegenseite des Problems kennen: Wir sind selbst zum Einwanderungsland geworden. Sich loszureißen, sich emotional von den vertrauten Menschen zu lösen, aber auch von der Landschaft und allen gewohnten Lebensumständen, ist schwer und gelingt nicht jedem. Wenn aber das Weggehen zu einer Massenbewegung wird, erkennen auf einmal alle, dass ihre Bindung an die gegebenen Verhältnisse schwächer geworden ist. Sie können irgendwann einfach sagen: Ich gehe auch.
Das Paradies im Kopf
Dieser Gedanke brachte eine neue Richtung in meine Stoffentwicklung. Würde eine Geschichte, die beschreibt, wie Menschen ihre Heimat verlassen, nicht dazu beitragen, die Einwanderer von heute besser zu verstehen? Wie sah der Abschied damals aus? Wie lange tragen die Menschen den Schmerz dieses Abschieds in der anderen Heimat noch mit sich?
Meine Antwort war die Figur des Jakob Simon: ein Hunsrücker Bauernjunge, der Bücher liest und sich ein eigenes Universum des Wissens und der Träume schafft. Das erste Treatment hatte den Arbeitstitel «Das Paradies im Kopf». Damit wollte ich nicht nur auf Jakobs Träume anspielen, sondern hatte diese Vorstellungen von einer besseren Welt im Blick, die durch das Lesen von Abenteuerromanen in die Köpfe der Menschen gedrungen war. Hauptpersonen der Familie, die ich dem Kosmos meiner Heimat-Trilogie entnahm, sind neben Jakob und seinem Bruder Gustav noch die Eltern, Margarethe, die Mutter, und Johann der Schmied, sowie eine Großmutter und die ältere Schwester der beiden Brüder.
Erfahren Sie mehr über Edgar Reitz, Die Andere Heimat – Chronik einer Sehnsucht oder über das Jahrhundert-Epos Heimat – Eine deutsche Chronik
Andere Beiträge über das Werk von Edgar Reitz in diesem Blog:
https://filmgeblaetter.schueren-verlag.de/was-ist-film-was-ist-kino/
Und
https://filmgeblaetter.schueren-verlag.de/?p=80
Infos rund um die HEIMAT-Reihe von Edgar Reitz auch auf Heimat-Fanpage.de