Zur Aktualität eines Phänomens, zum Realismus Bazins und zur Mystik
Gerade ist das Buch von Christian Kaiser über Die lange Einstellung im Schüren Verlag erschienen.
Im Folgenden erzählt er, was ihn an dem Thema gefesselt hat, und welchen Gewinn man von der Lektüre hat:
Zu Beginn dieser Dekade, als die Arbeit an der Dissertation Die lange Einstellung – Dauer, Kontinuität und Mystik begonnen hatte, war die Lage noch eine andere gewesen: Zwar hatten Sokurow und Noé im Jahr 2002 jeweils (tatsächliche bzw. getrickste) Single-Take-Filme vorgelegt, aber es hatte sich noch nicht abgezeichnet, dass in den 10er Jahren mit Filmen wie La casa muda (2010), Silent House (2011), Mahi Va Gorbeh (2013), Ana Arabia (2013), Victoria (2015), Die Musik stirbt zuletzt (2018), Utøya 22. juli (2018) oder dem anstehenden 1917 (2019) die lange Einstellung immer häufiger extremste Ausformungen auch im Mainstreamfilm annehmen sollte; auch der zu Beginn und gegen Ende montierte „Birdman“ (2014) wäre in diesem Zusammenhang unbedingt noch zu nennen.
Ursprünglich war angedacht, verschiedene Stilmittel und Techniken, die immer wieder unter dem Label der Entschleunigung subsumiert werden, in den Blick zu nehmen: um aufzuzeigen, dass dieses Subsumieren den Blick für die teilweise doch ganz unterschiedlichen Wirkungen und Effekte der jeweiligen Mittel trübt. Der Umfang hätte jedoch den Rahmen gesprengt, sodass es bei der langen Einstellung blieb, was sich rückblickend gerade angesichts der jüngsten Karriere dieses Mittels auch im Mainstream-Bereich als richtige Entscheidung erwiesen hat.
Der Grund dafür, dass die Wahl auf die lange Einstellung gefallen ist, lag indes bei Bazin. Sein (zwar mittlerweile oftmals in seine Schranken verwiesener, aber nicht grundsätzlich zurückgewiesener) Ansatz, welcher der langen Einstellung einen realistischen Effekt attestiert, übersieht den Umstand, dass die durch Reduzierung der Montage in der Tat gewährte Kontinuität noch immer mit einer Wahrnehmung einhergeht, die sich von der natürlichen Alltagswahrnehmung unterscheidet. Die gewährte Kontinuität macht nicht die filmische Wahrnehmung realistischer, sondern die filmische Wahrnehmung lässt die Kontinuität stärker hervortreten, die sich in der Alltagswahrnehmung kaum bemerkbar macht, da sie im Grunde jederzeit vorhanden ist.
Die Kontinuität erlaubt es dagegen viel eher, die lange Einstellung vor dem Hintergrund der mystischen Erfahrung zu verhandeln, für welche Einheitsgedanken eine so zentrale Rolle spielen. Zu diesem Zweck wurden die Filmtheorien von Paul Schrader und Gilles Deleuze ebenso herangezogen wie Standardwerke zur Mystik. Im Zusammenhang mit dem Werk Tarkowskijs wurde die lange Einstellung bereits von verschiedenen Autoren mit der Mystik in einen Zusammenhang gebracht. Die Frage, weshalb diese Nähe zwischen langer Einstellung und Mystik nicht auch bei anderen Film(schaffend)en gegeben sein sollte, wurde hingegen allenfalls indirekt und/oder unbefriedigend beantwortet.
Dagegen sollte in „Die lange Einstellung – Dauer, Kontinuität und Mystik“ die Annahme ausgearbeitet werden, dass die Eignung, eine mystische Wirkung zu entfalten, ein inhärenter Wesenszug der langen Einstellung ist – der in den 1920er-Jahren bereits ebenso zutage treten konnte wie aktuell selbst noch in einem James-Bond-Film. Der Schwerpunkt liegt allerdings auf Regisseuren, die mehrfach systematisch Gebrauch von der langen Einstellung gemacht haben, wobei zumindest im Zusammenhang mit Noé auch offensichtlich wird, dass die lange Einstellung keinesfalls zwangsläufig der Entschleunigung untersteht.
Der Nutzen der Arbeit sollte aber nicht bloß darin liegen, die lange Einstellung (und die reduzierte Schnittfrequenz) stärker aus dem Be-/Entschleunigungs- und einem slow-cinema-Diskurs herauszuholen; so geht es am Rande – etwa im Zusammenhang mit Jancsó – auch darum, inwieweit die lange Einstellung (un)geeignet ist, in politisierten Filmen mit agitatorischen Anliegen zum Einsatz zu kommen. Im Zusammenhang mit Jancsó und dem Frühwerk von Angelopoulos wird in diesem Zusammenhang auch herausgearbeitet, inwieweit die Entfaltung einer mystischen Wirkung gehemmt werden kann: Hier erweisen sich Verfremdungseffekte und penible Choreografien als geeignet, die lange Einstellung entsprechend zu beeinträchtigen.
Ich hoffe, mit „Die lange Einstellung – Dauer, Kontinuität und Mystik“ eine Theorie der langen Einstellung vorgelegt zu haben, die unabhängig davon, wie man sich zur Mystik positioniert, überzeugen und weiterführende Analysen langer Einstellungen, die derzeit immer populärer zu werden scheinen, unterstützen kann. An dieser Stelle möchte ich noch einmal ganz herzlich meinem Betreuer und Erstgutachter PD Dr. Bernd Kiefer von der Johannes Gutenberg-Universität Mainz für seine Ratschläge und Anmerkungen danken – sowie Prof. Dr. Marcus Stiglegger und Univ.-Prof. Dr. Norbert Grob, die sich als Zweitgutachter bzw. Mitglied des Gutachterausschusses zur Verfügung gestellt hatten.
Christian Kaiser
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