Thomas Koebner über die Bedeutung des Waldes in Jane Campions Film DAS PIANO

Liebe als Naturmacht spiegelt sich in der Wirrnis der Wildnis. Die stumme Schottin Ada (Holly Hunter), die sich mit den (romantisch klingenden) Tönen ihres Pianos ausdrücken kann, wird mit ihrer Tochter nach Neuseeland verfrachtet, um dort die Ehe mit einem Farmer (Sam Neill) einzugehen: Sie ist eine zweite Lady Chatterley.

Ankunft am Strand in DAS PIANO (1993) © Arthaus

Ihrem angetrauten Mann verweigert sie Sex, nicht aber einem halbwilden Einsiedler im Wald (Harvey Keitel als George), der – obwohl schon merklich in die indigene Kultur übergewechselt (er trägt tätowierte Linien im Gesicht) – ihr Klavier einhandelt, um ihr näher zu sein.

Dieser Wald, der sich um die vereinzelt liegenden Häuser ausdehnt, ist archaisch, voller verkrüppelter Stämme, ‹verunklart› durch Moos, Farne, Schlingpflanzen, Lianen. Wegen des beinahe ständigen Regens ist der Boden aufgeweicht, eine Schlammmasse, über die schmale Bretter gelegt werden, damit man nicht im Morast versinkt – was dann aber doch geschieht. Der triefende Regen könnte an die mythologische Vorstellung vom Himmel erinnern, der sich mit der Erde vereinigt.

Adas Hinterkopf vor dem Wald in DAS PIANO (1993) © Arthaus

In diesem Wald kommt es zu einem Ausbruch der Leidenschaft, zum Ehebruch. Eine auffällige Einstellung: Die Kamera zoomt auf Adas Hinterkopf zu, die in dieses dunkle, abweisende Dickicht sich verschlingender Gewächse starrt – als Ausdruck ihrer Sehnsucht (wohl nach beidem, dem Piano und dem Geliebten) – , in deren Mitte Georges (wacklige) Hütte zu finden ist. Oder: An schlangengleichen Ästen klammert sich Ada fest (im Vordergrund), als ihr betrogener und wutentbrannter Ehemann sie fortzerrt, damit er ihr einen Finger abhacken kann.

Dieser Wald ist nicht nur ein abstoßendes, unwirtliches, blaugraues Gewächs, er ist die geeignete Szenerie für Adas verworrene Gefühle: das wuchernde Begehren, das sich zunächst unter dem streng frisierten Aussehen der stummen Frau verbirgt. Derselbe Wald dient selbst der jungen Tochter als erotisch infizierter Spielplatz: Sie umarmt Stämme innig und ahmt so das Liebespaar nach, das sie durch die Ritzen in Georges Hütte beobachtet hat.

Ada und Flora vor Waldkulisse in DAS PIANO (1993) © Arthaus

Dagegen sticht der weiträumige Sandstrand ab, das mit großen Wogen anrollende Meer. Auf dem Sandstrand liegt nach der Landung das einsame Piano: für Ada mehr noch als ihre Tochter Flora ein Freund, ein Teil ihres Lebens. Anfangs verkörpert das Klavier für Ada eine Art heimatliches Territorium, das sie gar nicht verlassen will, dann beginnt sie, den Einsiedler und Waldmenschen George zu lieben – weil er die existenzielle Bedeutung des Pianos für Ada erkennt. Das Klavier überträgt als Medium die zwischen Ada und George wachsende Leidenschaft, er überantwortet es Taste für Taste der mit diesem fragwürdigen Handel einverstandenen Ada, um dafür ihren nackten Anblick genießen zu dürfen.

Schließlich verliert der ‹Klangkörper› zunehmend an Bedeutung, wird sogar zerlegt: Eine Taste, als sei sie ein Knochen aus dem Leib Adas, dient sogar als Liebesbotschaft. Am Ende wird das Instrument als Symbol von Adas alter, europäischer und ‹kultivierter› Identität vom Eingeborenen-Kanu ins Meer gestürzt. Ada, am Seil hängend, sinkt mit dem Piano in die Tiefe – bis sie sich unter Wasser befreit und wieder auftaucht: eine Szene, die das Begräbnis der alten Existenz und den Anfang einer neuen, eine Wiedergeburt, unzweideutig vor Augen führt.

Ada schwebt unter Wasser über ihrem Klavier © Arthaus

Das Liebespaar Ada und George wechselt vom dumpf-klammen Waldrevier in eine städtisch helle Umgebung, die Rückkehr in die Wildnis bleibt ihnen erspart. Im Gegenteil: Mit einem künstlichen, als Metall gefertigten Finger ausgestattet, spielt Ada wieder, doch zögernd und vorsichtig auf einem neuen Klavier.

Thomas Koebner

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