Der französische Filmregisseur Leos Carax wird 60 – Porträt eines Poète maudit.
„Metteur en scène ou director. Il ne s’agit pas de diriger quelqu‘ un, mais de se diriger soi-même.“
Robert Bresson, “Notes sur le cinématographe”
In Sachen Karriere an die Wand fahren kann Leos Carax so schnell niemand das Wasser reichen. Vier Langfilme in 25 Jahren, darunter das Millionengrab POLA X (1999) und die mehrere Produzenten verschleißende Großproduktion DIE LIEBENDEN VON PONT-NEUF (1991). Hinzu kommen totgeborene Projekte und der Ruf, schwierig zu sein. Es gibt vermutlich vertrauenerweckendere Biographien im Filmgeschäft, zumindest für die Finanzjongleure der heutigen Kinoökonomie.
Nicht ohne Witz ist deswegen der Titel der jüngsten Produktion des französischen Regisseurs: MERDE (2008), ein Beitrag zum Omnibusfilm TOKYO, an dem neben Carax noch Michel Gondry und Bong Joon-ho mitgewirkt haben. MERDE ist ein Anschlag auf den guten Geschmack, eine anarchische digitale Farce, die ebenso viel vom Filmgeschäft verrät wie vom Terrorwahn nach dem 11. September 2001. Denis Lavant verkörpert die gleichnamige Hauptfigur: einen zotteligen Quasimodo, der die Menschen hasst und das Leben liebt. Von der Tokioter Kanalisation aus macht er sich auf, Angst und Gewalt in der japanischen Metropole zu säen. Man sieht kreischende Japanerinnen und Fernsehmoderatoren, die von Anarchie in der Stadt berichten – und einen entrückten Denis Lavant, der an eine düstere Märchenfigur erinnert. „Er sagt, er heiße Merde“, sagt sein Anwalt während der Gerichtsverhandlung, „was übrigens sehr an das französische Wort für Scheiße erinnert.“
MERDE ist eine Frechheit, eine burleske Provokation. Für Carax, der in den vergangenen Jahren allenfalls mit kryptischen Kurzfilmen (MY LAST MINUTE, 2006) und bestellten oder nicht bestellten Musikclips (Carla Bruni, New Order) auf sich aufmerksam machte, ist es ein Weg zurück auf die Leinwand. Ob das seit langem angekündigte Roadmovie SCARS der nächste Schritt sein wird?
Viel ist es in den vergangenen Jahren über den aus der Welt gefallenen Regisseur geschrieben und spekuliert worden. Von einem Musical war die Rede, von einem zwischen Russland und den USA spielenden Roadmovie, von einem neuen Film mit Juliette Binoche. Gering war der Erkenntnisgewinn oder die Verlässlichkeit der Vorhersagen. In den 80er Jahren galt Carax als das größte Talent des französischen Kinos, wenn nicht des Weltkinos. Eine verhinderte Karriere später steht er wieder am Anfang. Grund genug zurückzublicken.
Der Mann, der den Oscar schon im Namen trägt, wird am 22. November 1960 als Alexandre Oscar Dupont in Suresnes bei Paris geboren. Sein Vater ist Franzose, seine Mutter Amerikanerin. Seinen Künstlernamen bastelt er sich als Anagramm aus seinen beiden Vornamen: aus Alex Oscar wird Leos Carax. Über die Kritiker-Ikone Serge Daney kommt er in Kontakt mit den „Cahiers du Cinéma“. Daney war von 1973 bis 1981 Chefredakteur der Filmzeitschrift. Carax schreibt unter seiner Obhut Filmkritiken. Sein erster Text befasst sich mit VORHOF ZUM PARADIES (1978) von Sylvester Stallone. Er lernt Jean-Luc Godard kennen und dreht 1980, im Alter von 20 Jahren, seinen ersten Kurzfilm, Strangulation Blues. Eine gemurmelte Stimme aus dem Off, ein Verbrechen, eine Nacht in Paris, eine Reflexion über Liebe und Kino: Es sind Carax‘ typische Stilmerkmale, die bereits in dieser frühen Arbeit auszumachen sind. Strangulation Blues sei der Filmhochschulfilm, den er nie gedreht habe, wird Carax später sagen.
BOY MEETS GIRL(1984), Carax erster Langfilm, und DIE NACHT IST JUNG (1986) etablieren ihn als Filmemacher. Eine neue Stimme hält Einzug in der französischen Filmlandschaft. Popkultur, Filmgeschichte und jugendliches Ungestüm: Carax‘ Filme vereinen disparate Elemente. DIE NACHT IST JUNG, dieser Neo-Noir-Sci-Fi-Thriller, der seinen Originaltitel – „Mauvais sang“ – von Rimbaud borgt, verdankt der Nouvelle Vague ebenso viel wie MTV und der Clipkultur. Kritiker werden in diesem Zusammenhang vom „cinéma du look“ sprechen, und darunter neben den Filmen von Leos Carax Arbeiten von Jean-Jacques Beineix und Luc Besson fassen. Eine unglückliche Kategorisierung, vor allem für Carax.
Die gelackten Bilder sind bei ihm kein Selbstzweck. Der Manierismus seiner frühen Filme speist sich aus der Filmgeschichte. Es gibt Anspielungen und Zitate: von Jean-Luc Godard und Jean Vigo bis Lilian Gish. Als Kritiker der „Cahiers du Cinéma“ und Stammgast der Pariser Cinémathèque hatte er sich das Filmhandwerk autodidaktisch angeeignet. Mit dem Krawall-Kino eines Luc Besson hat das nichts zu tun. Allerdings eben so wenig mit einer wie auch immer gearteten Neo-Nouvelle-Vague. Nahe fühlt sich Carax, und das hat er mehrmals betont, allenfalls Philippe Garrel und Jean-Luc Godard, zwei anderen Außenseitern des französischen Kinos. Seine Filme erzählen davon.
Wenn man heute die als Trilogie angelegten ersten drei Filme wiedersieht – neben BOY MEETS GIRL und DIE NACHT IST JUNG zählt Carax wohl bekanntester Film LIEBENDEN VON PONT-NEUF dazu – so haben sie nichts von ihrer Dringlichkeit verloren. Sie sind besser gealtert als ein Großteil der Filme jener Zeit. Was neben der Kameraarbeit von Jean-Yves Escoffier an der Inszenierung und den Schauspielern liegt, an Mireille Perrier, Juliette Binoche, Michel Piccoli und Denis Lavant.
Denis Lavant, Carax‘ viel beschworenes Alter Ego, wird auch heute noch als Carax-Schauspieler wahrgenommen. Mit Anfang 20 arbeiteten sie zum ersten Mal zusammen. Die Figur des Alex, Hauptfigur der ersten drei Filme, trägt unverkennbar Züge des Regisseurs – und das nicht nur des Namens wegen. Carax nutzt autofiktive Elemente. In seiner Verfahrensmechanik erinnert dies an die Doinel-Reihe von Jean-Pierre Léaud und François Truffaut.
DIE LIEBENDEN VON PONT-NEUF, Carax‘ Liebesdrama aus dem Obdachlosenmilieu, mischt heterogene Stile. Der Film beginnt als Stück Cinéma vérité. In grobkörnigen Bildern sieht man, wie Obdachlose von der Straße aufgesammelt und ins Nachtasyl nach Nanterre gebracht werden. Bruchlos wechselt das Genre: die dokumentarisch anmutende Sozialstudie geht über in aufwendig inszenierte, farbdurchdrängte Bilder, ein Rausch aus Farben. LIEBENDEN VON PONT-NEUF markiert einen Einschnitt in der Filmographie des französischen Regisseurs. Es ist der Abschluss der Alex-Trilogie, zugleich Ausgangspunkt eines Mythos, der dem Regisseur heute noch anhängt. Leos Carax reiht sich damit ein in eine Reihe verkannter Genies: von Jean Vigo bis Erich von Stroheim. In Frankreich spricht man vom „Poète maudit“.
Drei Jahre haben Carax und sein Team an den LIEBENDEN gearbeitet. Produktionsfristen verstrichen, der Hauptdarsteller verletzte sich, Drehgenehmigungen liefen aus. Mehrmals stand der Film auf der Kippe. Das ursprünglich auf 32 Millionen Francs veranschlagte Budget war schon nach wenigen Wochen überschritten. Zwei Produzenten ging das Geld aus. Die Dreharbeiten mussten unterbrochen werden. Das eigentlich nur für einige Nachtaufnahmen vorgesehene Dekor in der Camargue musste samt Seine-Ufer und Île de la Cité ausgebaut werden, da die Drehgenehmigung auf der wegen Renovierungsarbeiten gesperrten Pont Neuf in Paris verstrich. Am Ende beliefen sich die Produktionskosten auf 130 Millionen Francs. Nur dank der Intervention des französischen Kulturministers Jack Lang und dessen Fond zur Rettung des Autorenfilms (IFCIC) konnte der Film vollendet werden. LIEBENDEN VON PONT-NEUF wurde zum bis dahin teuersten Film der französischen Filmgeschichte.
Ganz hat sich Leos Carax von dieser Geschichte nie erholt. POLA X, die acht Jahre später entstandene Melville-Verfilmung, zehrt von dieser Erfahrung. In großen Teilen erzählt Melvilles Roman über das Scheitern eines Schriftstellerlebens in der Verfilmung von Carax auch von ihm selbst. Das von der Kritik geschmähte einstige Wunderkind Aladin (Guillaume Depardieu) weist Parallelen zum Regisseur auf. Sein Scheitern ist das Scheitern des Filmemachers. Bei Kritik und Zuschauern fiel der Film durch – und trotzdem enthält er einige der eindrücklichsten Momente in der bisherigen Filmografie des französischen Regisseurs. Vor allem in der etwas längeren, fürs Fernsehen bearbeiteten Fassung finden sich Einstellungen, die Carax als einen der bildgewaltigsten Filmemacher seiner Generation ausweisen. Der einige Jahre später entstandene Film VERSAILLE (2008) von Pierre Schoeller – ebenfalls mit dem im letzten Jahr verstorbenen Mimen Guillaume Depardieu in der Hauptrolle – ist in gewisser Weisen eine Fortsetzung der von Carax entworfenen Figur und eine eindrückliche Hommage an seine Außenseiterhelden.
Für Carax kann es nach MERDE nur noch das Verstummen oder eine Neuerfindung geben. Interviews aus den vergangenen Jahren zeigen einen geläuterten Regisseur. Das Kino, das ihm fremd geworden sei, sei nicht sein Geschäft, aber es sei seine Heimat. Seine einzige.
Beitrag von Markus Zinsmaier im Filmkalender aus dem Jahr 2010. Auch im aktuellen Kalender gibt es Porträts und spannende Beiträge.
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