Unsere Lust an der Serie

Und welche Serie schaust du? The Wire, Die Sopranos, AllyMc Beal, Mad Men, Emergency Room oder doch am liebsten Lost?» Immer häufiger ist das Gespräch über die eigenen Serienlieblinge Thema auch ernsthafter Gespräche auf Gesellschaften oder unter Freunden. Das liegt daran, dass die Qualitätsserien – in der Regel amerikanischer Herkunft – anders als die bisher im Fernsehen übliche anspruchslose Familienunterhaltung intelligente Handlungsstränge mit ironischen Bezügen und überraschenden Wendungen koppeln und so die Fantasie des Zuschauers im höchsten Maße beanspruchen. Wie vielschichtig z. B. die Serie Die Sopranos aufgebaut ist, zeigt folgender Auszug aus einem Beitrag von Rainer Winter dem Buch «Serielle Formen».

Parodie des Mafiafilms

The Sopranos stellt zunächst eine raffinierte, künstlerisch durchdachte, selbstreflexive und komplexe Neuschaffung und Fortführung des Mafiafilms dar. Wie bei Gangsterfilmen im Allgemeinen wird ein Diskurs über Macht inszeniert, der mit genretypischen Regeln, Codes und Konventionen verbunden ist. Das organisierte Verbrechen in seinen alltäglichen Praktiken ist realistisch dargestellt. Auch brutale Gewalt gehört hierzu. Dabei knüpft die Serie an die Erzähltradition des realistischen Romans und Films an, bricht sie aber ironisch, weil die Existenz von medialen Repräsentationen der Mafia thematisiert wird, was eine distanzierende Wirkung hat.

So kommt die Rezeption von The Godfather und anderen Gangsterfilmen häufig in der Serie vor. Silvio Dante, ein Freund von Tony und Manager des «Bada Bing», imitiert regelmäßig Gestik und Tonfall von Michael Corleone aus The Godfather III (1990) zum Amüsement seiner Kollegen. Aus im Fernsehen übertragenen Gerichtsprozessen und Abhörprotokollen des FBI wissen wir, dass Mafiosi sich an der Inszenierung der Mafia in The Godfather orientieren und Kleidungsstil sowie Auftreten kopieren. Auch dieses Verhalten wird in The Sopranos humorvoll kommentiert und parodiert.

(Foto: HBO)

Nicht nur das Gangstergenre mit seinem realistischen Erzählmodus und moralischen Universum, auch die thematischen Strukturen von Sitcoms und Soap Operas werden genutzt. So stellt The Sopranos zwei Familientypen vor, den Mafia-Clan als ‹Familie› und das Familienleben von Tony Soprano mit seiner Frau, seinen Kindern, seiner Mutter und anderen Verwandten. Das Privatleben der Charaktere nimmt eine zentrale Rolle ein. Vor allem mit den Soaps teilt The Sopranos einige Merkmale wie die plurale Erzählstruktur, die gut ein Dutzend Handlungsstränge in einer Folge umfassen kann, die parallele Entwicklung mehrerer Geschichten, die nicht schnell zu einem Ende kommen, und die infolge dieses Komplexitätsgrades erforderliche Konzentration beim Publikum und Beschäftigung mit dem Verstehen der Charaktere und ihrer emotionalen Befindlichkeiten. Anzuführen ist auch die Langsamkeit des Erzählmodus bei der Schilderung von Routinen des Alltagslebens, die durch außergewöhnliche Ereignisse, Probleme und Krisen unterbrochen werden. Auf diese Weise wird auch ein Kontrast zur Gangsterwelt erzeugt, in der Wettbewerb, Konkurrenz, Status, die Inszenierung von Männlichkeit und Gewalt dominieren. Wie im Qualitätsfernsehen üblich, entsteht durch Anknüpfung und Verwendung verschiedener thematischer Strukturen ein vielschichtiges fiktionales Universum, in dem immer wieder neue Geschichten entwickelt werden, Charaktere sich verändern und neue Situationen entstehen. Die vielen Figuren mit ihren eigenen Entwicklungen und Erzählungen, die in der Interaktion mit anderen zu weiteren Geschichten führen, bieten Anlass für individuelle Episoden, die Teil der fiktionalen Welt von The Sopranos werden.

Erzähluniversum

The Sopranos pflegt eine neobarocke Erzählweise, die sich durch dynamische narrative Strukturen mit multiplen Zentren auszeichnet. Es gibt keine Erzähllinie, die dominiert, kein zentrales Problem, das gelöst werden muss. Die Serie hat die Form eines Serials, besteht also aus einzelnen Episoden, die nicht abgeschlossen sind und sich in den folgenden Episoden fortsetzten. Bisweilen werden Handlungsstränge auch erst in einer späteren Staffel wieder aufgenommen. Der Zuschauer muss also die Verbindungen zwischen dem Geschehen der einzelnen Episode und dem umfassenderen fiktionalen Universum erkennen und aktiv Bezüge herstellen. Auch wenn die einzelnen Episoden in sich verständlich sind, vermitteln sie mehr Vergnügen, wenn sie im Zusammenhang gesehen werden. Viele Bedeutungen erschließen sich auch erst, wenn man eine Episode im Kontext der übergreifenden Erzählung betrachtet. Dann kann sie sich als stimmig, kohärent oder weiterführend für die Motivationen und Handlungen der Charaktere erweisen.

Der Zuschauer, der sich The Sopranos ganz oder wiederholt anschaut, kann sich bisweilen wie in einem Labyrinth vorkommen, bei dem er den Ausgang nicht finden kann oder möchte, weil er sich so sehr an die lustbetonte Suche und ihre Gratifikationen gewöhnt hat.

Erfahren Sie mehr in Durch das Labyrinth von Lost und Serielle Formen