Ein Blick auf den zeitgenössischen brasilianischen Film

Als Ehrengast auf der Frankfurter Buchmesse 2013 präsentierte sich Brasilien als «ein Land voller Stimmen». Doch neben literarischen Stimmen, erreichen uns aus Brasilien auch immer wieder Bilder in Form von (auch in Deutschland) vielbeachteten Kinofilmen.

Lange Tradition: Einst schwarz-weiß und stilistisch deutlich an den italienischen Neorealismus an­gelehnt, beispielsweise die auf europäischen Festivals ausgezeichneten Filme von Nelson Pereira dos Santos (Rio, 40 graus, 1955) und Glauber Rocha (u. a. Barravento, 1964; Terra em transe, 1967). Etwas später erschien 1978 einer der bis heute erfolgreichsten brasilianischen Filme, Dona Flor e Seus dois maridos (Dona Flor und ihre zwei Ehemänner) unter der Regie von Bruno Barretos, bei dem es sich um eine Verfilmung der literarischen Vorlage Jorge Amados handelt und die als erotische Komödie umschrieben werden kann. 1998 erscheint von Walter Salles der Film Central Station, mit dem der Regisseur nicht nur einen Goldenen Bär in Berlin gewinnt, sondern zeigt, dass die Bedeutung des geschriebenen Wortes für den Film auch über den Akt des Literaturverfilmens hinaus gewaltig sein kann.

City of God Regie: Fernando Mereilles (Frenetic Films), 2003

Bilder der Gewalt

Apropos Gewalt: Als einer der bekanntesten, wenn nicht prägendsten brasilianischen Filme gilt vielen Kinogängern sicherlich Fernando Meirelles’ und Kátia Lunds City of God (2002), dessen farbige und mit Sambaklängen untermalte Bilder den von struktureller Ungerechtigkeit und ganz manifester Gewalt erzählenden Roman Paulo Lins’ auf der Leinwand lebendig werden ließen. Übertroffen (sowohl in der Gewalttätigkeit seiner Bilder als auch in Zahlen) wurde dieser Erfolg nur noch von den (inzwischen) zwei Filmen von José Padilhas, Tropa de Elite I und Tropa de Elite II – O Inimigo Agora É Outro (in Deutschland bekannt als Elite Squad I und Elite Squad II, 2007 und 2010). Mit dem ersten Teil begeisterte Padilha die Filmkritiker auf der Berlinale in großem Maße und bekam 2008 den Goldenen Bär verliehen; mit dem zweiten Teil brach er alle Rekorde, so dass Tropa de Elite II heute als meistverkaufter und wirtschaftlich erfolgreichster Film in Brasilien gilt (über 100 Mio. Real Kartenerlös). Inhaltlich und ästhetisch befeuern diese beiden Filme und City of God eine Tendenz immer aufwändigerer Kinobilder der Gewalt, die Ivana Bentes, eine Kritikerin des brasilianischen Kinos, in Anspielung auf das Manifest Ästhetik des Hungers von Glauber Rocha (1963) von einer «Kosmetik des Hungers» hat sprechen lassen, also der immer schillernderen Inszenierung gewaltgeprägter Milieus. Nun ist den Filmschaffenden nicht vorzuwerfen, dass sie sich weltweiten Trends – hier ist schon mal die Rede von einer «Unterhaltungsausgabe von Gewalt und Tod» (Rathmayer 1996) – anschließen.

Viele Filme, viele Schwierigkeiten: Dennoch sollte man nicht aus dem Blick verlieren, dass hinter der ersten Reihe des mit Hollywood-Code wirtschaftlich erfolgreich operierenden brasilianischen Kinos eine ganze Zahl ästhetisch und inhaltlich äußerst verschiedenartiger Filme in zweiter Reihe existieren. Viele Zuschauer, die sich für lateinamerikanisches Kino interessieren, werden vielleicht erstaunt vernehmen, dass in Brasilien gegenwärtig jährlich etwa 100 Kinofilme neu erscheinen.

Filme aus Brasilien laufen kaum in deutschen Kinos

Damit ist Brasilien eine der größten und regelmäßig produzierenden Filmländer neben Mexiko und Argentinien. Auf den Filmfestivals in Brasilien und im Ausland sind diese Filme natürlich präsent und erhalten nicht selten viele Preise, jedoch sind sie nicht auf den Leinwänden der nationalen oder gar deutschen Kinos zu sehen. Das hat verschiedene Gründe: Im Land selbst sind die Kinos in Ketten organisiert, deren mehr als sechs Vorführsäle fast ausschließlich in den shoppings (so nennt man in Brasilien die Shoppingcenter) stehen. Programmkinos mit ein, zwei Leinwänden, die sich auch mal an «unsichere» Filme wagen, sind fast völlig verschwunden. Diese neue Kultur des Filmsehens erlaubt natürlich in erster Linie konsumierbare Filme mit mythischen, in sich abgeschlossenen Narrationen, die Bestandteil des Konsumerlebnisses im Einkaufszentrum sind. Für Filme, wie Histórias que só existem quando lembradas (Found Memories, 2011) von Júlia Murat, dessen stille Magie bereits die Juroren von mehr als 20 internationalen Filmfestivals begeisterte, scheint sich kein Publikum (gerade mal 8 500 Zuschauer in Brasilien) und bisher auch kein deutscher Verleih zu finden. Doch gerade hier könnten Impulse herkommen, immerhin ist Deutschland unter den ersten Ländern, mit denen bilaterale Film-Abkommen geschlossen wurden. Denn eigentlich hat es der Film doch leichter als die Literatur. Bilder sprechen eine universelle Sprache und bedürfen keiner Übersetzung, lediglich einer Untertitelung. So könnte es vielleicht eines Tages, ähnlich wie nun im Literaturbetrieb, heißen «Brasilien, ein Land vieler Bilder» und gemeint wäre ein breites Spektrum aktueller brasilianischer Filme.

Peter Grüttner

Auszug aus !muestra! Kino aus Spanien und Lateinamerika in Deutschland, hg. von Verena Schmöller und Birgit Aka ISBN 978-3-89472-869-4