Nebel und Schneetreiben hängen tief über der winterlich dunklen Landschaft, durch die sich der Blick der Kamera seinen Weg bahnt. Die genretypische Eröffnung verrät nicht, welcher Art das Wesen ist, durch dessen Augen wir hier sehen. Anhaltspunkte geben zunächst vor allem sparsame Schnauflaute und die Reaktionen der Umgebung auf seine Anwesenheit: Eine Herde von Wildpferden stiebt auseinander, Schafe in einem Stall geraten in Panik und drängen, als sich das Wesen nähert, ängstlich in die Ecken ihrer Gatter; nur eins bleibt allein und ausgeliefert zurück und schaut paralysiert dem Eindringling entgegen.

Nach dieser Exposition widmet sich Lamb, das Spielfilmdebüt des in Reykjavík lebenden Filmemachers Valdimar Jóhannsson, zunächst der naturalistischen Betrachtung des Alltags von Maria (Noomi Rapace) und Ingvar (Hilmir Snaer Gudnason), einem Schafszüchterpaar im einsamen Norden Islands.

Inmitten der gebirgigen Landschaft führen sie auf ihrer abgeschiedenen Farm ein Leben, das sich ganz am Wechsel der Tages- und Jahreszeiten und an den Bedürfnissen ihrer Herde ausrichtet. Obwohl sie kaum miteinander sprechen, wirken sie innig vertraut. All ihre Verrichtungen sind aufeinander abgestimmt, greifen ineinander.

Wie der sich immer wieder auflösende Nebel über den weiten Hochtälern liegt über ihrer Gemeinsamkeit jedoch eine ganz eigene Melancholie, die von einem tief empfundenen Verlust herzurühren scheint. Mit der Zeit erschließt sich, dass sie in der Vergangenheit ein Kind verloren haben.

In seinem Arbeitsalltag lässt Lamb, beim Filmfest in Cannes 2021 für seine Originalität ausgezeichnet, das Paar immer wieder zusammen die Lämmer ihrer Schafe entbinden. Doch eines Tages gebiert ein Schaf ein Wesen mit dem Kopf eines Lamms und dem Körper eines Kindes. Statt sich von der Anomalität dieser Tatsache abschrecken zu lassen, nehmen die Protagonisten das Mischwesen wie ihr eigenes Kind an und geben ihm den Namen Ada – den Namen ihrer eigenen verstorbenen Tochter. Sie ziehen es im Haus auf, säugen es mit der Flasche und stellen ihm ein Kinderbett in ihr Schlafzimmer.

Einzig das Mutterschaf zeigt sich mit diesem Gang der Dinge nicht einverstanden, sondern steht immer wieder meckernd unter dem Fenster, hinter dem das Kleine schläft. Einmal dringt es sogar ins Haus ein, um sein Junges zu entführen, woraufhin es von Maria, die ihr neu gefundenes Glück mit allen Mitteln bewahren will, immer aggressiver angegangen wird – bis sie es irgendwann erschießt, was sie vor Ingvar geheim hält.

In so spektakulären wie akkuraten Bildern der Landschaft und ihrer Bewohner, zu denen neben Maria und Ingvar praktisch gleichberechtigt ihr Hund, die forschende Katze und vor allem die immer wieder bemerkenswert charakterstark in Szene gesetzten Schafe gehören, erzählt der Film eindringlich vom Eingebettetsein des Lebens ins umgebende Ökosystem. Häufig verweilt die Kamera auf windbewegten Zweigen und Grashalmen, nimmt die die Szenerie begrenzende schroffe Bergkette in den Blick oder widmet sich Details der Bearbeitung der harten Erde mit Traktor und Grubber und dem aufgeregten Atmen eines verletzten Schafes.

Dabei wird nicht verheimlicht, dass es zur Aufrechterhaltung der momentan erlebten funktionierenden Gleichgewichtssituationen der Fähigkeit bedarf, sich vergangenem Leid wie gegenwärtiger Angst zu stellen und Fragen, die sich nicht beantworten lassen, als offene auszuhalten.

Herausgefordert wird das spät gefundene exzentrische Familienglück von Maria, Ada und Ingvar durch die Ankunft von Ingvars Bruder Pétur (Björn Hlynur Haraldsson). Der ist ein Musiker und Herumtreiber, der immer wieder in Schwierigkeiten mit seiner Umwelt gerät. Auch dieses Mal ist er auf der Flucht vor Problemen, in die er sich in der Stadt gebracht hat. Dennoch ist ihm sofort klar, dass das Idyll, in dem sich sein Bruder und die Schwägerin mit ihrem eigentümlichen Kind eingerichtet haben, nur widernatürlich sein kann. Also beschließt er, dem ein Ende zu machen.

Statt jedoch seine Absichten in die Tat umzusetzen und Ada bei einem gemeinsamen Spaziergang zu erschießen, kann auch er nicht anders, als sich von ihrem Liebreiz einnehmen zu lassen und sich mit dem Mischwesen anzufreunden. Mit ihren gemeinsamen Unternehmungen entwickelt der Film in der Folge eine immer größere Leichtigkeit.

Auch wenn Ada, wann immer sie sich in einer Spiegelung betrachtet, zu überlegen scheint, ob sie mit ihrem weißen Fell, der Schafsschnauze und dem aus einem dicken Jackenärmel herausragenden Huf tatsächlich so ganz dazugehört, wie die anderen es ihr versichern.

Aber noch mehr steht der trauten Gemeinsamkeit von Ada, Maria und den Brüdern im Weg: Einerseits schleicht irgendwann der leibliche Vater Adas, ein Mischwesen wie sie, um den Hof und tötet den Hund der Familie, was Ada beobachtet. Andererseits ist da der Umstand, dass Pétur nicht die Finger von der Frau seines Bruders lassen kann. Nach einer alkoholselig ausgelassenen Nacht weiß Maria sich gegen seine immer übergriffiger werdenden Annäherungsversuche nicht anders zu helfen, als den Musiker wieder aus ihrem gerade erst ausbalancierten Leben zu verbannen.

Während sie ihn zurück in die Zivilisation befördert, spielt sich auf der Farm ein Drama ab, das alles verändert. Der Schafsmann, die Kreatur aus der Eingangsszene, holt sich, was sein ist, zurück: Dafür tötet er Ingvar und nimmt Ada mit sich in die Wildnis. Trotz offensichtlicher Trauer um ihren Ziehvater, folgt diese ihm.

Maria findet so bei ihrer Rückkehr ihren Mann in seinem Blut liegen und von Ada keine Spur. Obwohl sie erneut alles verloren hat, drückt ihr Gesicht, nachdem der erste Schock verdaut ist, ein sich Fügen in den Gang der Dinge aus. Eher als beim Verlust ihrer ersten Tochter scheint sie bereit, die Tragödie als Strafe oder Antwort auf die Wahl der Mittel, die sie selbst zur Verteidigung der von ihr unbedingt gewollten Ordnung im eigenen Mikrokosmos eingesetzt hat, zu akzeptieren.

Die Stärken von Lamb liegen vor allem darin, seiner Filmerzählung über weite Strecken eine große Offenheit zu gestatten. Vieles erschließt sich nur langsam, viel bleibt bis zum Ende der Fantasie des Publikums überlassen. Dadurch wird nicht nur die unterschwellige Spannung der Geschichte erhöht, sondern es werden auch Anschlüsse an Mythen und aktuelle Bedrohungsszenarien auf den Plan gerufen – und nicht zuletzt ergeben sich Verbindungen zu einem ökologischen Bewusstsein, das die Notwendigkeit des Zusammenlebens mit allen möglichen Formen des Fremden in den Mittelpunkt stellt – bei allen Schwierigkeiten, die sie mit sich bringen mag.

Lamb bietet also allemal Ansätze, die das Kino aus seiner sehr speziellen Genre-Nische heraus als »Form, die denkt« im Sinne Godards oder interpretierenswerte Allegorie nach Jamesons Verständnis in Stellung bringen.

Holger Heiland

Bildnachweise: © Plaion Pictures

Dieser Beitrag stammt aus dem Buch Himmel. Steine. Tiere. Menschen.

Eine weitere Filmanalyse des Films PARASITE gibt es hier zu lesen.